Neugier auf den Nachbarn

Gespräch mit Armin Petras, Intendant des Maxim-Gorki-Theater

Iwona Uberman: Herr Petras, Sie sind ein großer Polenfreund.

Armin Petras: (lachend) Ja.

Uberman: Woher kommt diese Sympathie? Stillen Sie bitte meine Neugier.

Petras: Das ist eine gute Frage. Ich glaube, das hat etwas mit meiner Kindheit und Jugend zu tun. Ich bin ja in der DDR aufgewachsen, auch wenn ich in Westdeutschland geboren bin. Ich hatte eine sehr umtriebige Biografie, sagt man auf Deutsch, in viele verschiedene Richtungen. Ich bin als Junge, also mit vierzehn- fünfzehn Jahren, immer nach Polen getrampt, nach Warschau, in die Masuren, ich hatte Freunde in Białystok, dort oben in der Gegend. In Augustów war ich immer zelten und dort ist ein polnischer Freund von mir ertrunken. Er im Stacheldraht vom Zweiten Weltkrieg hängen geblieben, d.h. er war wahrscheinlich eines der letzten Opfer des Zweiten Weltkriegs.  Insofern ist das schon biografisch bedingt, dass mich Polen immer interessiert hat. Also,  in den neunziger Jahren spielte das keine große Rolle, da war bei uns einfach zu viel los. Das hat dann besonders in der Auseinandersetzung mit dem Werk von Stasiuk und auch dem von der Dorota Masłowska wieder angefangen. Wir hatten Gastspiele mit den Fritz-Kater-Stücken in Krakau im Teatr Stary. Ich habe die dortigen Theaterleute kennengelernt und bin auch zum Inszenieren eingeladen worden, habe eine Fassung vom „Achten Tag der Woche“ von Marek Hłasko inszeniert - ich glaube, das läuft sogar heute noch. Das ist in Polen ja sehr schön, dass die Inszenierungen sehr lange laufen. Ich habe dort Mikołaj Grabowski kennengelernt, aber auch andere junge Theaterschaffende wie Michał Zadara, der war Assistent bei mir damals, und viele andere. Das war eine sehr, sehr schöne Begegnung. Hinzu kommt auch noch, dass zu der Zeit meine Tochter in Krakau geboren wurde. Sie ist Polin.

Uberman: Lassen Sie mich zusammenfassen, was unter Ihrer Leitung im Gorki Theater allein in den letzten zwei Jahren gelaufen ist, was mit Polen zu tun hat. Da waren zuerst die szenischen Lesungen der Stücke moderner polnischer Autoren im Studio. Sie selbst inszenierten in Kooperation mit den Wiener Festwochen Dorota Masłowskas „Zwei Polnisch sprechende Rumänen“, was auch noch im Spielplan ist. Dann gab es das Gastspiel von Andrzej Stasiuk „Warten auf einen Türken“, dann die Kooperationsprojekte mit Krakau „Sein oder Nichtsein“ und „Krakau -Berlin - Express“. Macht sich das Maxim-Gorki-Theater für polnische Dramatik in Deutschland stark?

Petras: Absolut ja. Ich finde es unheimlich wichtig, den nahen, fremden Nachbarn weiter kennenzulernen. Für mich war die Arbeit in Krakau natürlich großartig, aber die Recherchearbeit zu dem „Krakau-Berlin-Express“ war der Moment in dem ich, wie ich glaube, am meisten über Polen und Deutsche überhaupt kennengelernt habe. Also eigentlich gar nicht so sehr die inszenatorische Arbeit, sondern die Recherche dazu. Wirklich in dem Land zu reisen und mit den Menschen und den anderen Theaterleuten zu sprechen, das war unheimlich spannend. Gerade in kleinen Provinztheatern in Schlesien mit jedem einzelnen Regisseur und mit dem Intendanten zu sprechen und dort Dinge über ihr Leben und ihre Arbeit zu erfahren.

Uberman: Wird das Projekt vielleicht eine Fortsetzung haben?

Petras: Im Moment ist es ein bisschen schwierig. Wir haben so intensiv miteinander gearbeitet, dass ich glaube, es ist jetzt eher gut, wenn wir wieder mal ein wenig etwas Luft bekommen. Und, ich würde sagen, wenn es auch von anderer Seite wieder neue Initiativen gibt, wo man sagt, dass könnte ein interessantes Projekt sein. Ich glaube, viel extremer, viel intensiver kann man gar nicht arbeiten.

Uberman: Sie werden in zwei Jahren Berlin verlassen. Es stellt sich die Frage, ob Berlin für Polen-Projekte ein guter Ort war und ob Sie sie in Stuttgart fortsetzen können.

Petras: Ich glaube, dass wir das können, auch weil wir in Stuttgart mehr Geld haben werden als in Berlin. Auf der anderen Seite ist es natürlich von Berlin aus leichter, es ist einfach näher von der Mentalität und von der Kenntnisnahme her. Aber das heißt ja nicht, dass man nicht es nicht fortsetzen könnte – die Welt ist näher zueinander gerückt. Ich glaube schon, dass man das fortsetzen kann, wenn man möchte.

Uberman: Dann sprechen wir vielleicht über ihre letzte Inszenierung „Die Wohlgesinnten“, das war ein sehr ungewöhnliches Projekt, schon die Vorbereitungsphase war ganz ungewohnt, sowohl für Sie und Ihr Team, als auch für das Publikum. Können Sie etwas mehr darüber erzählen?

Petras: Es war zunächst einmal schwer, überhaupt die Rechte zu bekommen, weil der Autor Jonathan Littell gar nicht wollte, dass das Buch im Theater gemacht wird. Wir haben eineinhalb Jahre gebraucht, ihn zu überreden. Ich bin mehrfach nach Barcelona geflogen, um mit ihm zu reden, er war auch in Berlin, bis wir das hingekriegt haben. Und dann haben wir eigentlich im ganzen Theater über ein Jahr lang hinweg versucht, eine Phase der Vorbereitung zu schaffen, haben mit Wissenschaftlern - mit Historikern, mit Literaturwissenschaftlern, mit Politikwissenschaftlern – zusammengearbeitet. Wir haben eine Serie von Hearings mit Zuschauern gemacht, in denen über die verschiedenen Problematiken, die in dem Stoff vorkommt, geredet wurde. D.h., eigentlich war das ganze Haus mehr oder weniger mit Wissen über diese Zeit angefüllt. Das war interessant und natürlich auch sehr ungewöhnlich.

Uberman: Und es war auch gleich ein großer Erfolg, die Reihen in den Hearings, den „Geschichtsräumen“, waren bis zum letzten Platz gefüllt.

Petras: Die Leute sind interessiert, das liegt natürlich auch an Berlin, wo eine sehr hohe Dichte an Intellektuellen besteht, an Menschen, die sich auch für Geschichte interessieren.

Uberman: Was hat Sie persönlich daran gereizt, den Roman von Littell auf die Bühne zu bringen?

Petras: Für mich war das Überraschendste, dass in diesem Roman die Sicht auf den Zweiten Weltkrieg, besonders auf den Russland-Feldzug aus der Sicht der Täter beschrieben wird. Das war für mich völlig neu und das Interessanteste überhaupt.

Uberman: In dieser Hinsicht kann man eigentlich sagen, dass Sie weiter gegangen sind, als George Tabori, der dies in „Mutters Courage“ schon ansprach. Dort wird eine Geschichte erzählt, die besagt, dass, wenn man sich entscheidet, etwas ernsthaft zu tun, soll man es in allen Konsequenzen machen. Auf Ihre Inszenierung übertragen: „wenn man sich mit der NS-Vergangenheit beschäftigt, dürfen die Verbrechen der SS nicht ausgelassen werden“. Sie geben dem Zuschauer keine Möglichkeit, sich von dem Geschehen zu distanzieren, er wird auf der Seite der Täter miteinbezogen. War es ihre Absicht, dem Publikum so nahe zu treten?

Petras:  Ich kann dem gar nichts hinzufügen. Sie haben richtig beschrieben, was die Intention unseres Teams war. Und ich glaube,  dass  ist schon in dem Bühnenbild ersichtlich, wo wir einen Spiegel gebaut haben, vor dem der Zuschauer niemals flüchten kann, sondern immer auch virtuell mit auf der Bühne ist.

Uberman: War da Ihnen nicht bange, so weit zu gehen?

Petras: Ja, natürlich. Es war von vornherein auch klar, dass diese Inszenierung sehr polarisieren wird, was sie ja auch getan hat. Es gibt sehr viele Gegner und sehr viele Freunde dieser Inszenierung. Das ist antagonistisch, sehr gespalten.

Uberman: Das stimmt wohl -wobei, wenn ich mir die Kritiken anschaue, habe ich das Gefühl, dass sich viele Kritiker lieber auf nebensächliche oder allgemeine Themen konzentrierten und sich nicht so richtig auf die Inszenierung einlassen wollten.

Petras: Da haben Sie vielleicht den fremden Blick, den polnischen Blick. Und das ist sehr gut.  Ich sehe das auch so. In den Gesprächen mit den Zuschauern ergibt es ein ganz anderes Bild, ich weiß nicht, ob sie bei einem dabei waren. Dort ist  es sicherlich so, dass es etwa zehn Prozent der Menschen gibt, die es kritisch sehen und sagen, so sehe ich das nicht. Aber es sind siebzig bis achtzig Prozent der Leute, die sehr erregt, sehr aufgeregt sind und es generell eine großartige Idee finden, dass zu machen. Ich habe schon Briefe gekriegt, einen von einer Mutter. Sie hat mir geschrieben, dass sie ihr Kind und die ganze Schulklasse in diese Inszenierung schicken wird. Sie hat gesagt, dass müssen Jugendliche heute sehen. Das ist natürlich das Schönste, was Theater überhaupt kann: in das Leben von Menschen einzugreifen, direkt.

Uberman: Wir sind an einem sehr interessanten Punkt, weil mir hier eine gewisse Diskrepanz zu bestehen scheint. Die Theaterkritik zieht sich ein bisschen zurück, das Publikum hingegen zeigt, dass es ein wichtiges Thema, eine wichtige Inszenierung für es ist,  und reagiert dann auch sehr stark und positiv darauf. Was kann man daraus schließen, ist inzwischen die deutsche Theaterkritik des Themas müde?

Petras: Das weiß ich nicht, es ist für mich auch sehr schwer, über Theaterkritik zu reden, weil immer ein Geschmack bleibt, dass ich mich schlecht behandelt fühle. Es ist Auftrag der Kritik, kritisch zu sein, sonst würde sie nicht so heißen.  Kritik bringt einen ja auch voran, wenn sie gut geschrieben ist. Weil sie bestimmte Elemente zeigt, die noch nicht ausreichen. Auf der anderen Seite glaube ich schon, dass es eine Scheu gibt, sich auf das Thema wirklich einzulassen.

Uberman: Zurückschauend: früher hat man bei Inszenierungen von Peter Zadek oder George Tabori oder bei Doku-Dramen von Peter Weiss und Rolf Hochhut viel längere Diskussionen geführt. Diesmal stellt zwar die Kritik in „Theater der Zeit“, einer „der“ Theaterzeitschriften in Deutschland fest, dass in Ihrer Inszenierung „die Faschismuskonzeption auf der Bühne in Deutschland eine neue Qualität bekam“, man hält sich aber nicht lange dabei auf. Das Gespräch verlagert sich eher von der Theaterkritik ins Facebook oder in Publikumsdiskussionen.

Petras: Das ist interessant, da hab’ ich noch gar nicht so drüber nachgedacht, finde ich auch einen neuen Gedanken. Vielleicht liegt es auch daran, dass in Deutschland, jedenfalls die Intellektuellen, zu denen ich die Kritiker hinzuzählen würde, das Gefühl haben, man weiß schon alles. Ich glaube, das ist ein Irrglaube. Mir ist es so gegangen, dass ich dachte, wir haben uns eineinhalb Jahre wirklich intensiv damit beschäftigt und mein ganzes Regal war voll von Büchern über diese Zeit und wir haben, glaub ich, mit zwanzig Professoren geredet. Und dann nach den eineinhalb Jahren das Gefühl, ich weiß gar nichts. Also, es hatte sich komplett umgedreht. Je mehr ich gelesen hatte, je mehr wir gesprochen hatten, umso weniger hatte ich das Gefühl, ich kann wirklich etwas über diese Zeit sagen.

Uberman: Mit dem Thema beschäftigen Sie sich schon lange. Sie haben aber nie Stücke von Joshua Sobol oder George Tabori inszeniert. Warum?

Petras: Das ist ganz einfach. Ich kann mich nicht als Deutscher, als deutscher Regisseur auf die Seite der Opfer schlagen und mit deren Sprache reden, das ist  für mich moralisch nicht möglich. Und es ist etwas anderes bei Littell. Littell ist Jude, aber er versucht ja gerade, in die Sprache der Täter hinein zu gehen.

Uberman: Sie inszenieren sehr oft Romane, die Sie selbst bearbeiten. Haben für Sie Romane einen besonderen Reiz, was haben sie, was Theaterstücke nicht haben?

Petras: Es sind verschiedene Dinge. Einmal ist es so, dass es Autoren gibt, die einfach keine Dramen geschrieben haben, wie zum Beispiel Marek Hłasko und die ich trotzdem großartig finde. Und andererseits ist es einfach so, dass es viel mehr große Themen in Romanen gibt, als in Stücken. Man kann Littell nennen, aber auch andere Autoren.

Uberman: Mache ich mich bei Ihnen unbeliebt, wenn ich Sie frage, ob Sie sich bei den „Wohlgesinnten“ zusammennehmen mussten, um sich so stark zu disziplinieren? Jede Szene in Ihrer Inszenierung scheint im Kleinsten genau ausgearbeitet zu sein- dabei leben viele Ihrer bisherigen Inszenierungen vom Provisorischen. Man sagt, dass das Unfertige Ihr…

Petras: mein Stil ist.

Uberman: ...Markenzeichen Ihres Stils sei.

Petras: Ich glaube, dass Sie recht haben. Das liegt vielleicht auch an der Last, die man bei diesem Thema gefühlt hat, dass es für mich in diesem Falle sehr schwer war, die Dinge dem Zufall zu überlassen. Ich wollte gerne, dass das, was wir erzählen wollen, auch wirklich sichtbar ist. Vielleicht ist das ein Mangel dieser Inszenierung …

Uberman: keineswegs.

Petras: … ich weiß es nicht, das kann ich selber nicht sagen, ich kann nur sagen, dass die Schauspieler auch  sehr diszipliniert gearbeitet haben, dass wir oft in  Krisen gekommen sind, dass oft geweint wurde auf den Proben oder auch geschrien, und dass dies eine der intensivsten Erfahrungen in meiner ganzen Arbeitszeit war.

Uberman: Also im Moment keine Stilveränderung beim Regisseur Petras.

Petras: Nein, es geht nur um das Material.

Uberman: Und was ist Ihr nächstes Projekt?

Petras: Mein nächstes Projekt wird der „Bahnwärter Thiel“ sein, wieder eine Erzählung, von Gerhard Hauptmann.

Uberman: Und was große Romane angeht?

Petras: Es gibt noch einen ganz großen Roman, den ich in den nächsten zwei Jahren zumindest erst mal für das Theater bearbeiten möchte, aber ich weiß noch nicht, ob ich das selbst inszeniere. Das ist quasi die Gegenseite von Littell, nämlich Wassili Grossmann „Leben und Schicksal“. Ein großes und wahrscheinlich ein noch bedeutenderes Werk.

Uberman: Da darf man gespannt sein.

Petras: Das dauert aber mindestens noch zwei Jahre.

Erschienen auf Polnisch in "Teatr" Nr. 1/2012, später in MOE-Kultur-Newsletter, Ausgabe 81 publiziert