Erziehung mit der Knarre
„Verrücktes Blut“ im Berliner Ballhaus Naunynstrasse
Es ist es fast überflüssig, die Nachricht zum wiederholten Male zu verbreiten, sie ging bereits durch alle Medien:
seit 2008 gibt es in Berlin Kreuzberg ein Theater Ballhaus Naunynstrasse, das sich als „postmigrantisches“ Theater bezeichnet und das sich von vielen anderen Kulturstätten der Stadt dadurch unterscheidet, dass es überwiegend von und mit Künstlern mit Migrationshintergrund gemacht wird. Eine der Inszenierungen des Ballhauses „Verrücktes Blut“ sorgt seit dem Herbst 2010 für Aufmerksamkeit und Schlagzeilen in allen in Deutschland bekannten Zeitungen und anderen Medien. Sie wurde zu den besten Inszenierungen der laufenden Theatersaison gekürt und zu dem Berliner Theatertreffen im Mai 2011 und zu den Mülheimer Theatertagen eingeladen. „Verrücktes Blut“ wurde von Nurkan Erpulat und Jens Hillje frei nach dem französischen Film „La journee de la jupe“ entwickelt und als Kooperation zwischen Ruhrtriennale und Ballhaus Naunynstrasse in der Regie von N. Erpulat auf die Bühne gebracht. Inzwischen ist übrigens diese zurecht als sehr erfolgreich verschriene Theaterinszenierung nicht nur als das sprichwörtliche „Korn des blinden Huhnes“ zu betrachten, sondern die gesamte Arbeit von Ballhaus dank der künstlerischen Leitung von Shermin Langhoff genießt immer mehr Anerkennung und wurde bereits mit dem KAIROS-Kulturpreis der A. Toepfer- Stiftung gewürdigt. Aber bleiben wir zuerst bei dem Stück.
Der Rahmen der Geschichte lässt sich schnell erzählen. Es geht um einen Unterricht in einer fast nur aus Migrantenkindern bestehenden Schulklasse. Eine völlig überforderte Lehrerin versucht, den an einem Theaterprojekt teilnehmenden Schülern die Werte der Aufklärung zu vermitteln und ihnen Kenntnisse der deutschen klassischen Literatur beizubringen. Es klappt nicht, sie versucht es also mit Gewalt. Die Gelegenheit dazu ergibt sich überraschend und die Lehrerin ergreift sie, zuerst ohne sich dessen bewusst zu sein, was sie da gerade tut. Kurz später stecken sie alle, sie und die Schüler, tief drin und es ist zu spät, zurückzukehren oder auszusteigen. Was sind es für Werte, deren Umsetzung der Pädagogin so sehr am Herzen liegen? Es ist Friedrich Schillers ästhetische Idee von der Bildung des Menschen zu einem politischen Bürger durch die schönste von allen Künsten, durch das Theaterspiel. „Der Mensch ist nur da ganz Mensch, wo er spielt“ gehört zu den bekanntesten Sätzen des Dichters. So entscheidet sich die Lehrerin für diesen Weg, um ihre dummen, jungen, gewalttätigen und verzogenen Migrantenschäfchen zu etwas gebildeteren, politisch mündigeren, Respekt kennenden Bundesbürgen zu erziehen. Theaterspielen heißt die gewählte Lösung, die zu gehen es sich vielleicht lohnen könnte. Mit einem Wundermittel, einer echten Pistole in der Hand, bekommt Frau Kelich plötzlich eine Chance, sich Gehör zu verschaffen und die Umsetzung ihrer Idee auszuprobieren. Sie treibt ihr Ziel auf Biegen und Brechen voran, sie will es erreichen, koste es, was es wolle.
Hier wird nicht nur die Theorie von Schiller zu Hilfe gezogen, auch sein dramatisches Werk wird jetzt den Weg begleiten. „Die Räuber“ werden angepackt, sie eignen sich nach Frau Kelich sehr gut dafür, sind doch die im Stück wiedergegebene alten Konflikte in der Familie, unter den Freunden oder in der Gesellschaft immer noch den heutigen ähnlich. Allerdings reicht es nicht, den Schülern das Stück nur lesen und spielen zu lassen, damit sie seine Inhalte gleich verstehen können. Die Lehrerin muss Aussage für Aussage, Seite für Seite, Schritt für Schritt, Gedanken und Beweggründe der Helden erklären. Aber macht sie es wirklich vor allem der Schüler wegen? Auch das Publikum scheint eine Verständnis- oder Erinnerungskrücke sehr gebrauchen zu können. Wer weiß schon, kalt erwischt, warum Karl Moor zum Räuber wurde, warum er sich mit Spiegelberg stritt, was mit Roller passierte und wer überhaupt Roller war?
Wer in Deutschland geboren ist, der soll Deutsch beherrschen, dem soll deutsche Kultur, also auch die deutschen Klassiker, bekannt sein. Es gehört sich einfach seit Generationen so. Und es gibt auch nichts dagegen zu sagen, natürlich, ist es gut so, so sind die Spielregeln. Interessant wird es aber, sich ’mal zu fragen, ob man die Inhalte des Deutsch-Schulunterrichts im Erwachsenenleben wirklich gebraucht? Erinnert man sich dann später tatsächlich an sie? Keine Sorge, man braucht hier keine Blamage zu befürchten. Man wird in der Naunynstrasse weder interviewt, noch danach gefragt, wie man es selbst mit den Klassikern hat. Erst recht besteht an diesem Ort keine Gefahr, dass es einem die deutsche Staatsangehörigkeit aberkannt wird, sollte man keine ausreichende Kenntnis diesbezüglich vorweisen können. Man wird auch nicht bedrängt, sich dazu zu äußern, ob man findet, dass die Klassiker für die jungen Leute, insbesondere junge Migranten ein wirklich gutes Geschenk auf den Weg ins Erwachsenenleben sind. Darüber entscheiden soll man anderswo und es sollen besser diejenigen machen, die über Schillers Inhalte auch heute noch gut Bescheid wissen, hier ist man schließlich im Theater und nicht bei einer Problem-Diskussion über die heutige Bildung(smisere). Im Zweifelsfall lässt sich auch immer die alte Weisheit verteidigen, was uns nicht geschadet hat, kann auch den anderen nicht schaden.
Jedenfalls, tut es am Abend gut, durch Anweisungen der Lehrerin an Schillers Inhalte erinnert zu werden. Beispielsweise daran, dass es schon zu Schillers Zeiten Rebellen gab, die Wut auf den Staat und seine Autoritäten hatten, die unverstanden von dem in Überfluss schwimmenden und nur an eigenem Vergnügen interessiertem Teil der Gesellschaft ausschließlich Desinteresse oder gleichgültige Ablehnung erfuhren. Heute feiert man Schillers Drama auf der Bühne, während man die Migrantenrebellen auf der Strasse missachtet. Sind aber Gründe für die Rebellion heute nicht ähnlich wie die bei Schiller und müssten sie deshalb nicht dadurch eher nachvollziehbar sein für diejenigen, die auf der deutschen Schule etwas über Aufklärung gelernt haben und ihr Gut in ihrem Leben umsetzen sollten?
„Verrücktes Blut“ zu sehen ist eine Freude, daran besteht kein Zweifel. Während des Abends bleibt es jedoch bei einer klaren gesellschaftlichen Trennung und einer eindeutigen Rollenzuschreibung. Diejenigen auf der Bühne, sind „sie“ und wir, die anderen, das Publikum, bekommen hier eine bequeme Gelegenheit, von unserer Position aus einen Blick in diese fremde, an dem Abend zwei Stunden lang sehr aufregende Welt, in der sicherlich viel mehr los ist als in vielen unseren alltäglichen bürgerlichen Existenzen, zu werfen. Man kann sich bequem zurücklehnen und nicht nur diese fremde Spezies, Migrantenkinder, belächeln, sondern auch über die Repräsentantin der Bildungskultur, die natürlich auch nur ein Mensch mit Schwächen und Fehlern ist, überlegen schmunzeln oder über sie dort zu urteilen, wo auch ihr Handeln hinter den selbst vertretenen Positionen hinterher hinkt. Es ist leicht, von außen schauend zu entscheiden, wie man es richtig machen sollte.
Das ist eine kleine Gefahr, die dieser wirklich hervorragende Abend mit sich bringt: er erreicht das Bildungspublikum nicht da, wo er es erreichen sollte. Es ist keinesfalls die Schuld der Aufführung. Es liegt daran, dass das Bildungspublikum leider immer noch nicht so „aufklärungsfest“ und gebildet ist, wie man es voraussetzt und wie das Bildungspublikum selbsttäuschend es gern von sich behauptet. Man lehnt sich gern auf dem Stuhl zurück, genießt den amüsanten Abend, gibt sich ganz der klugen Unterhaltung hin und nimmt sie später mit nach Hause ohne seinen eigenen Teil der Bildungsverpflichtung (der natürlich nicht nur bei Schiller sondern auch im Theaterabend enthalten ist) zu erfüllen.
Man kann natürlich die Latte auch niedriger hängen. Reicht es nicht, wenn das Thema Migrantenschüler für einen Kulturabend salonfähig gemacht wird, dass sogar deutsche politische Prominenz, egal welcher Richtung, ihre Zeit für einen Theaterbesuch in einem bescheidenen Saal im tiefem Kreuzberg aufbringt? Reicht es nicht, wenn dank der hervorragenden Schauspieler und der Geschichte selbst, Sympathien für Migranten mit allen ihren Macken erweckt werden, reicht es nicht es, der Öffentlichkeit überzeugend zu zeigen, dass Künstler mit Migrationhintergrund aufregendes und erfolgreiches Theater auf die Beine stellen können? Von der Seite des Ballhauses und der Theaterproduktion reicht es vollkommen. Es ist viel mehr, als zu erwarten war, es ist ein wirklicher Erfolg. Das Ballhaus ist auch auf einem guten Weg, wenn noch eine oder zwei der sonstigen guten Inszenierungen des Hauses genauso beliebt werden wie das „Verrückte Blut“, wenn sie dafür sorgen, dass das Bewusstsein für erfolgreiches migrantisches Theatermachen zu einer Selbstverständlichkeit wird. Seitens der Gesellschaft ist es jedoch eher eine betrübliche Erkenntnis, zugeben zu müssen, dass nach 50 Jahren „Migrantenerfahrung“ nur die oben angeführten Erfolge als bei ihr vielleicht Angekommenes gefeiert werden können. Man steckt immer noch in der Anfangsphase. Aber malen wir es nicht so schwarz. Auch die deutsche Gesellschaft kann einen sicherlich mal überraschen. Außerdem, es gilt für alle: jeder verdient eine zweite Chance.
Erschienen in MOE-Kultur-Newsletter, Ausgabe 76