Bangen und Hoffen
Polnisches Theater nach 8 Jahren Regierung der rechtskonservativen PiS-Partei
Blickt man auf die polnische Theaterlandschaft der vergangenen acht Jahre der PiS-Regierung, tauchen skurrile Szenen und befremdliche Bilder vor dem inneren Auge auf: Auf der Bühne eines Theaters steht der Intendant und verkündet seinem Publikum lauthals, dass es nicht willkommen ist und schnellstens nach Hause gehen soll. In den Vitrinen eines anderen Theaters, hängen da, wo sonst die aktuellen Spielpläne sind, nur noch schwarze Plakate. In einem weiteren Theater wird jeden Tag nachgeschaut, ob sein Intendant überhaupt noch im Amt ist. Wieder anderswo wird ein Theatergebäude von „Rosenkranz-Kreuzzüglern für das Vaterland“, einer extremistischen religiösen Gruppierung belagert, so dass das Publikum das Haus nicht betreten kann. Und schließlich: Die oberste Beamtin der Bildungsbehörde einer Woiwodschaft (wie in Polen Verwaltungsbezirke einer Großregion heißen) weist alle Lehrerinnen und Lehrer der Region an, eine Theaterinszenierung mit ihren Schulklassen NICHT zu besuchen. Die Pointe: Sie selbst hat die Inszenierung gar nicht gesehen.
Was hat das alles zu bedeuten? Was ist im polnischen Theater los? Hier kommen ein paar Antworten.
Im Oktober 2015 gewann die konservative PiS-Partei die Wahlen in Polen. Seitdem versucht sie, im Land eine neue Kulturpolitik durchzusetzen. Diese Politik soll sehr „polnisch“ sein, alte Traditionen beleben und auf Vaterlandsliebe, katholische Religiosität, patriarchal geprägte Familientreue, Ahnenkult und Tugendhaftigkeit setzen, die als „wichtigste polnische Werte“ behauptet werden. Das neu gebildete Narrativ versteht sich als Gegensatz der – wie es in der rechten Presse stets hieß - bisherigen Spaßkultur mit ihrer westlichen Porno- und Gendermanier, die den Hass auf die Identität der polnischen Nation schüre, verdorben, dekadent, links versifft sei. Und europäisch, also fremd. Man war bei der Wortwahl nicht zimperlich.
Entschlossen begann die neue Regierung damals sofort, die Theaterszene umzukrempeln. Dabei ging man von der Überzeugung aus, dass es in Polen viele großartige Künstler und Kulturleiter gibt, die rechtskonservativ denken. Der einzige Grund, dass man diese ausgezeichneten rechtskonservativen Kunstschaffenden bisher nicht kennenlernen konnte, lag aus Sicht der neuen Regierung in der Diskriminierung und Missachtung dieser Gruppe durch die bisher tätigen Kunstkreise und die Vorgänger-Regierung (PO). Bei der „gute Wende“, wie der Regierungswechsel stets gelabelt wird, wollte man diesem Personenkreis nun schnell große Entfaltungsmöglichkeiten geben.
Im Theaterbereich fielen der Politik als Erste zwei führende, international bekannte Theater zum Opfer: das Teatr Polski we Wrocławiu in Breslau/Wrocław und das Narodowy Stary Teatr in Krakau/Kraków. Beide Bühnen waren seit langem „Visitenkarten“ Polens im Ausland, initiierten im Land wichtige Debatten und beschritten neue künstlerische Wege. Sie zogen verschiedenste Publikumsschichten an und waren in ihren Städten jeweils ebenso lebhafte wie tonangebende kulturelle Zentren. Trotz der Warnungen von Fachleuten, Proteste seitens der Zuschauer, aus den Ensembles und weiten, auch internationalen, Kreisen von Kunstschaffenden und Kulturleitern wurden durch das neue Kulturministerium für beide Theater in kurzer Zeit neue Intendanten durchgesetzt. Schnell stellte sich jedoch heraus, dass es sich in beiden Fällen um katastrophale Fehlentscheidungen handelte. Die Bilanz: Zerstörung zweier wichtiger Theater, große finanzielle Verluste, vergraultes Publikum - in Breslau wurden die alten Polski-Besucher*innen von dem Intendanten höchstpersönlich nach Hause geschickt. Anschließende Versuche, an beiden Häusern mit Hilfe von Nachfolgeleitern und erneuerten Teams wieder etwas aufzubauen, um aus der Bedeutungslosigkeit herauszukommen, in die die beiden Theater stürzten, tragen bisher keine Früchte.
Nach dieser doppelten Blamage änderte das Ministerium seine Taktik. Man entschied sich, stärker im Hintergrund zu agieren. Neue Methoden, quasi aus dem Off die Strippen zu ziehen, wurden etabliert: durch den Aufbau von Drohkulissen (sofortige Entlassungen bei nicht konformem Benehmen möglich), Versuchen der programmatischen Einmischung, der Schaffung einer grundsätzlichen Atmosphäre des Misstrauens, das Fördern von Eifersucht und Säen von Zwietracht sowie die Stiftung von Chaos. Diese Strategie wurde mit einem weiteren, sehr wirksamen Mittel verbunden: der Ausübung von finanziellem Druck. Ein gutes Beispiel für diese Strategie ist die – noch nicht abgeschlossene - Geschichte um das Teatr im. Słowackiego in Krakau.
Dieses Haus, das seit 2016 von Krzysztof Głuchowski geleitet wird, ist neben dem Narodowy Stary Teatr das größte und bekannteste, aber auch künstlerisch anspruchsvollste Theater in Krakau. Im Herbst 2021 gelang dem Theater mit einer Inszenierung der Regisseurin Maja Kleczewska ein ganz großer Wurf: das bedeutende Drama „Dziady“(„Totenfeier“) des polnischen Nationaldichters Adam Mickiewicz (1798-1855) zog landesweit Aufmerksamkeit auf sich. Anders als vom Dichter vorgesehen, spielten jetzt Frauen die Aufständischen, die für die Freiheit und Unabhängigkeit Polens kämpfen. Auch der Hauptprotagonist des Stücks war bei Maja Kleczewska nun eine Frau. Weitere Figuren, katholische Priester etwa, wurden zwar weiterhin von Männern gespielt, es wurden ihnen jedoch heutige Vergehen katholischer Priester hinzugefügt. Die Inszenierung war ein Erfolg bei Publikum und Theaterkritik, und ein finanzieller obendrein. Dies aber sollte dem Theater und vor allem seinem Intendanten zum Verhängnis werden. Da sich der Intendant weigerte, auf Druck der Woiwodschaftsbehörde (von PiS besetzt) und des Kulturministeriums die Inszenierung vom Spielplan zu nehmen, erfand man einen Vorwand, ein Amtsenthebungsverfahren gegen ihn einzuleiten.
Parallel zu diesem Verfahren hat das Kulturministerium das Theater in eine schwierige finanzielle Lage gebracht. Da man mit dem Theater bis Herbst 2021 durchaus zufrieden war, beschloss man, es in den Nationaltheater-Status zu erheben, was eine bessere Stellung und sicherere Finanzierung bedeutet hätte. Nach der „Dziady“-Premiere hieß es dann plötzlich, dass der bereits unterschriftsreife Vertrag doch nicht zustande kommen würde. Angeblich enthielt er Formfehler, die ganze Angelegenheit sei dadurch hinfällig. Dabei wurden alle Unterlagen vorher mehrfach von verschiedenen Behörden überprüft. Da das Theater jedoch mit dem Geld fest gerechnet hatte, beantragte es keine weiteren Förderungen, um nicht in Doppelfinanzierungsschwierigkeiten zu geraten. Das finanzielle Loch, das sich nun auftat, wurde für das Theater existenzbedrohend.
Das Amtsenthebungsverfahren läuft jetzt seit über 500 Tagen. Triftige Gründe für eine sofortige Absetzung des Intendanten scheint es nicht zu geben. Aus inoffiziellen Quellen heißt es sogar, das zuständige Gericht hätte die Entlassung abgewiesen. Offiziell verkündet wurde jedoch bisher nichts. Trotzdem hat die Behörde der Woiwodschaft Kleinpolen Mitte Juli ein Neuberufungsverfahren in Gang gesetzt. Die Bewerbungsfrist beträgt etwa zwei Monate. Von den Kandidaten erwartet man einen genau ausgearbeiteten Plan der Finanzierung des Theaters, ein Programm seiner künstlerischen Weiterentwicklung und den fertigen Spielplan für zumindest drei Saisons beginnend ab dem 31. Oktober 2023, dem Tag, an dem der neue Leiter das Amt übernehmen soll.
So ein Vorgehen mag aus der Auslandsperspektive fremd erscheinen, da die Handlungsspielräume dabei sehr ausgeweitet und viele Standards nicht eingehalten werden. In Polen hat man es seit dem Herbst 2016 schon häufiger erlebt. Kurzfristige Absetzungen von Leitern wichtiger kultureller Einrichtungen unter den vorgeschobenen oder nichtigen Vorwänden wurden vom Kulturministerium praktiziert. Die neuen Direktoren, von oben eingesetzt, waren keine hervorragende oder zumindest fachkundige Leitungstalente, was den Institutionen schadete, den Entscheidungsträgern aber wohl nicht zu stören schien. Manche der geschassten Führungskräfte haben vor Gericht geklagt und Recht bekommen, was stets große Entschädigungssummen kostete. Das Geld dafür kommt aus dem Kulturetat.
Geld für die Kultur unter der PiS-Regierung ist grundsätzlich ein interessantes Thema. Seit PiS regiert, gibt es so viel Geld für die Kultur wie nie zuvor (mehr als das doppelte Budget als zu Zeiten der PO-Vorgängerregierung). Dieses Geld wird allerdings überwiegend für eine bestimmte Art der Kultur verwendet. Kulturminister Gliński verkündete dieser Tage stolz, dass, als er sein Amt übernahm, 30 Museen in Polen einen Nationalstatus hatten und damit vom Kulturministerium mitfinanziert würden. Heutzutage seien es 60 museale Einrichtungen. Die meisten von ihnen sind auf stark nationalistisch gefärbte und extrem auf Polen fokussierte historische Themen spezialisiert. Bei den anderen künstlerischen Einrichtungen ist die Zahl von 21 auf 42 gestiegen. Darunter sind einige Opernhäuser, Philharmonien, Volkstanzensembles, ein Puppentheater und ein paar Sprechtheater.
Zwar bemühen sich weitere Theater, diesen sehr lukrativen Titel zu bekommen, der Nobilitierung und finanzielle Sicherheit bringt, aber eine Chance haben vor allem die, bei denen die Leitung eine national-konservative Haltung öffentlich verkündet und ein entsprechendes Programm (gern mit religiösen Elementen) anbietet. So wurde vor kurzem das Teatr im. Osterwy in Lublin hinzugenommen. Um die Bedeutung einer Erhebung in den Nationalstatus zu stärken, wurde als größeres Vorzeigeobjekt auch das Teatr Polski in Warschau/Warszawa aufgenommen. Das Słowacki-Theater hätte es auch fast geschafft. Aber wie schnell sich die Herrengunst ändern kann, wenn man – ungeschriebene – Bedingungen des Ministeriums nicht beachtet, hat man bereits gesehen. Was das Teatr Polski in Warschau angeht, so pflegt es ansehnlich die niveauvolle Kunst von gestern (viele klassische Inszenierungen von Molière, Goldoni, Tschechow, Sophokles mit einem mittleren bis guten Regie-Standard) und ist beim Ministerium bisher nicht negativ aufgefallen, wie das beim Słowacki-Theater mit „Totenfeier“ plötzlich der Fall war.
Bei den kleineren Häusern landesweit liegt die Latte höher. So braucht beispielsweise das Teatr Współczesny in Stettin/Szczecin dringend Geld. Das Gebäude ist marode (seit den 1970er Jahren wurde es nicht renoviert), die Technik veraltet und vieles funktioniert nur dank des Engagements und des Erfindungsreichtums des ganzen Teams. Trotz dieser misslichen Lage sind dem Theater zuletzt mehrere erfolgreiche Produktionen gelungen, die Auslastung ist hoch, 13 Aufführungen sind auf Festivals eingeladen. Das Theater hat überregional Erfolg. Aber der künstlerische Leiter Jakub Skrzywanek möchte eine breite Programmpalette anbieten: auch Themen wie die „Homoehe“ sollen vorkommen. Er selbst hat zudem am Teatr Polski in Posen/Poznań eine sehr beachtete Inszenierung „Śmierć Jana Pawła II“ („Der Tod von Johannes Paul II.“) herausgebracht. Sie lenkte die Aufmerksamkeit auf die Kommerzialisierung der Kirche, auf ungesunden religiösen Kult und Missbrauch kirchlicher Identifikationsfiguren. Diese Arbeit war bedacht und nicht auf Provokation und Beleidigung religiöser Gefühle ausgerichtet. Es war vielmehr eine zutiefst menschliche Reflexion über das Sterben vor aller Augen in der Öffentlichkeit. Viele PiS-Anhängern würdigten dies nicht, sondern nahmen nur Anstoß. Unnötig zu sagen, dass die meisten von ihnen die Inszenierung nicht gesehen haben. Das Współczesny-Theater kann somit heute von einer ministerialen Unterstützung nur noch träumen.
Man könnte meinen, dass in solchen Fällen angesichts der ideologisierten, rechtsnationalen Kulturpolitik der polnischen Regierung die kommunalen Behörden in Polen Enklaven bilden und der freien Kunst Unterstützung bieten. Zumal oft – etwa wie im Fall des Współczesny-Theaters in Stettin - die Städte Träger der Theater sind und in Stettin der Bürgermeister von der Unabhängigen Bürgerplattform kommt. Doch die Stadt verspricht zwar seit Jahren, sich zu kümmern, zeigt Verständnis für Probleme, macht sogar Pläne. Eine Umsetzung dieser Pläne in Form konkreter Finanzierungen bleibt jedes Mal aus. Das Współczesny-Theater ist nur eins von mehreren Beispielen. Die Opposition kümmert sich oft nur verbal oder gar nicht, was in der Regel mit Knappheit in lokalen Kassen begründet wird.
Es sind jedoch nicht nur der ökonomische Druck und die Einmischungsversuche seitens der Regierenden, die dem polnischen Theater aktuell zusetzen. Ein großes Problem sind politische Ränke und Spiele sowie lokale „Machtwort“-Entscheidungen. Im heutigen angeheizten politischen Klima mit seiner enormen Polarisierung ist oft ein kurzfristiges politisches Partei-Interesse (oder sogar ein privates) wichtiger als gemeinwohlorientiertes Handeln. Das in seiner Struktur komplizierte politisch-administrative System, in dem die Kompetenzen zwischen Woiwodschaft-Behörden, Selbstverwaltungsbehörden (Marschallamt) und Stadt- (oder Gemeinde-)Behörden nicht immer klar abgegrenzt sind, erfordert Kooperationswillen. Wenn dieser fehlt, bleibt nur langwieriges Prozessieren vor Gericht. Dabei kann es Kollateralschäden geben.
Im Teatr Dramatyczny in Warschau ist der Streit zwischen dem Marschall und der Stadt Warschau gut ausgegangen. Die monatelange Zeit des Gerichtsverfahrens, in der das Theater ohne Intendantin arbeitete, wurde durch das engagierte und starke Team gut überstanden. Jedoch wenn man nicht um den Intendantenvertrag streitet, sondern es um Erfüllung vertraglich festgelegter finanzieller Verpflichtungen geht, kann ein Theater dabei zugrunde gehen. Dies droht gerade dem Teatr im. Modrzejewskiej (Modejska-Theater) in Liegnitz/Legnica. Seit 1994 von Jacek Głomb geleitet, hat das Theater überregionale Bedeutung. Sehr stark mit der Stadt und der Region verbunden, ist es gleichzeitig ein Ort, wo moderne polnische Dramatik uraufgeführt wird. Künstlerisch offen, gilt das Theater als ein Sprungbrett für den Theaternachwuchs, ist bei Theaterfestivals präsent. Mit dem Augenmerk auf spezifische soziale Probleme in der Gegend und lokale deutsch-polnische Geschichte, behauptet sich dieses Kulturzentrum und der Treffpunkt in der Stadt und findet Zuspruch sogar bei der Woiwodschaft-Behörde in Breslau (PiS), ohne ein PiS-Profil vorzuzeigen. Das Theater gehört der Stadt, aber als Anerkennung der Leistungen wurde 2009 zwischen der Legnica-Stadtbehörde und der Woiwodschaft Niederschlesien ein Vertrag über die Mitfinanzierung des Hauses durch die überregionale Instanz geschlossen.
Im Juli 2022 hat der Bürgermeister von Legnica (seit 2002 im Amt, unabhängig) den Vertrag einseitig – und ohne offizielle Begründung (!) – ab 2023 gekündigt und dem Theater das Geld der Stadt gänzlich verweigert. Der Woiwode von Niederschlesien (PiS) schlug vor, bis zur juristischen Klärung, ob so eine einseitige und unbegründete Kündigung überhaupt erlaubt ist, dem Theater den Betrag der Stadt Legnica vorläufig aus Breslau zukommen zu lassen, um es vor der Zahlungsunfähigkeit zu bewahren. Für diese zusätzliche Budgetbewilligung war die Unterstützung der Selbstverwaltung nötig. Eine einzige Stimme aus der PO-Reihe hätte ausgereicht. Sie kam aber nicht, weil man kein PiS-Projekt unterstützen wollte. Das Theater musste schließen und es hängte schwarze Plakate in seinen Schaukästen aus, wo sich sonst die Spielpläne befinden. Mittlerweile ist das Haus vorübergehend wieder geöffnet. Die Woiwodschaft-Behörde entschied, das Geld doch vorläufig zu überweisen, nachdem eine neue Beratungssitzung der Selbstverwaltung mit einer zweiten Abstimmung für Ende September anberaumt wurde. Die große Frage ist, ob bei den extrem verhärteten Fronten kurz vor den Wahlen in Oktober ein anderes Abstimmungs-Ergebnis möglich ist. Der Woiwode geht hier ein hohes Risiko ein.
Noch ein weiterer Faktor, der den Theatern in Polen neben Unterfinanzierung, politischem Druck oder Ränkespielen in der Politik zu schaffen macht, ist der Faktor Mensch. Kulturelle Inkompetenz, persönliche Prioritäten der Entscheidungsträger, offene alte lokale Rechnungen, die nur bedingt mit der jetzigen politischen Lage zusammenhängen, fehlendes diplomatisches Geschick, wo man oft gerade ein Fingerspitzengefühl braucht, erschweren das theatralische Schaffen. Auch die rechte Presse und die Massenmedien (dazu gehört der wichtigste polnische Fernsehkanal TVP 1) diskreditieren gern unbequeme Inszenierungen, unliebsame, weil politisch selbstbewußte Künstler oder Theaterleiter. Das Verbreiten von Falschinformationen oder direktes Hetzen blüht, die Wortwahl ist dabei seit Langem radikal, um die Sache geht es kaum.
Davon können manche Theater ein Lied singen, unter anderem das Teatr Powszechny in Warschau. Nach der Inszenierung „Klątwa“/“Fluch“ in der Regie von Oliver Frljić (2017) wurde das Theater diffamiert, beschädigt, mit Gerichtsverfahren überzogen, schikaniert, und sogar bedroht. Das hat für Jahre einen großen Teil der Kräfte gebunden (manche Prozesse enden erst jetzt), die Energie für künstlerische Theaterarbeit gemindert. Dabei macht das Teatr Powszechny viele wichtige, auch lokale und soziale Bildungsprojekte verschiedener Art, möchte auf dem künstlerischen Niveau in der Hauptstadt mithalten, seinen Mitarbeitern sichere Arbeitsbedingungen bieten.
Den Leistungen vieler Theaterschaffenden in Polen kann man mit großer Achtung begegnen. Und es gibt sie, die guten Inszenierungen, die der schlechten Lage trotzen. Einen Teil davon konnte man beim Festival „Boska Komedia“ („Göttliche Komödie“) im Dezember 2022 in Krakau anschauen. Es gibt sie, die Theater, die gute und wichtige Arbeit leisten, interessante und beeindruckende Aufführungen auf ihren Bühnen zeigen. Von der Küste mit dem Teatr Wybrzeże in Danzig/Gdańsk über kleinere Bühnen wie z.B. Teatr im. Węgierki in Białystok im Osten oder Teatr Polski in Posen im Westen, Teatr im. Żeromskiego in Kielce im Zentrum des Landes, bis zu Teatr im. Kochanowskiego in Oppeln/Opole und – noch - Słowacki-Theater oder Teatr Łaźnia Nowa in Krakau im Süden. Polnische Regiestars und neue vielversprechende Regisseur*innen sind vielerorts präsent. Wie lange aber halten sie und die Theater noch durch? Was werden die Wahlen bringen?
Die Stimmung ist angespannt, die politische Lage unsicher. Man kennt schon „Strafmethoden“ des jetzigen Ministeriums: Geldentzug und Wegfall von Fördergeldern bei einzelnen Projekten. Darunter haben in den letzten Jahren einige wichtige Theaterfestivals gelitten: „Festiwal Prapremier“ („Festival der Uraufführungen“) in Bromberg/Bydgoszcz (seit 2016 bis heute), „Malta“-Festival (2017), „Dialog Wrocław“-Festival (2017), „Boska Komedia“ (immer stärker). Aber auch andere haben schon den Druck gespürt. Die Sorge ist groß, es könnte noch schlimmer kommen. Auch zeigt die Erfahrung, dass auf diesem Weg „eingesparte“ Zuschüsse für rechtsextreme und nationalistische militante Gruppen wie für den „Verein des Unabhängigkeitsmarsches“ ausgegeben werden, damit sie sich beispielsweise für ihre „patriotischen“ Kundgebungen Beschallungsanlagen kaufen können. Und falls die Opposition die Wahlen gewinnt: Die Szene wird politisch aufatmen, aber angesichts der massiven Herausforderungen, vor denen die Politik stehen wird, wird sie sich um die Theater kümmern? Es herrscht also große Unsicherheit. Aber klar ist auch: die PiS-Anhänger gehen selten ins Theater, man macht es für die anderen Zuschauer. Die kann und will man nicht im Stich lassen.
Der Text erschien im September 2023 in nachtkritik.de, Theaterbrief aus Polen
Die Dämonen sind losgelassen
Ein Gespräch mit Jan Klata
Iwona Uberman: Sie haben vor kurzem im Słowacki-Theater in Krakau „Act of Killing“ nach dem Dokumentarfilm-Reenactment von Joshua Oppenheimer inszeniert. Ich habe gehört, dass Sie jeden Tag vor der Probe im Büro des Intendanten vorbeischauten, um sich zu vergewissern, dass er noch im Amt ist.
Jan Klata: Ja. Ich hatte zuvor schon unangenehme Erfahrungen in einem anderen Theater. Während meiner Arbeit im Jaracz-Theater in Lódź 2020 wurde der dortige Intendant von heute auf morgen abberufen und ich habe die Proben zu „La vengeance d’une orpheline russe“ von Henri Rousseau nicht beendet. Jetzt ist dort ein sehr religiöser und äußerst patriotischer, kaum bekannter Schauspieler Intendant, der der Ehemann einer PiS-Abgeordneten ist. Als ich im Słowacki-Theater probte, lief gerade das Amtsenthebungsverfahren des dortigen Intendanten, eingeleitet durch den Vorstand der Woiwodschaft Kleinpolen, den die PiS stellt. Für uns entsprachen die Arbeitsbedingungen nicht den europäischen Standards, man wusste nicht, ob die nächste Probe stattfindet, ob es zur Premiere kommt, oder ob nicht vielleicht am Nachmittag oder in der Nacht - die Entscheidungen in der PiS-Partei fallen oft nachts - Krzysztof Głuchowski abberufen wird. Der Grund dafür war, die Regisseurin Maja Kleczewska mit der Regie unseres urpolnischen Nationaldramas „Totenfeier“ von Adam Mickiewicz zu betrauen. Heraus kam dabei eine Inszenierung, die der PiS nicht zusagte. Trotz des Drucks von der Woiwodschaftsbehörde und später auch aus dem Kulturministerium in Warschau setzte der Intendant die Inszenierung nicht vom Spielplan ab.
Uberman: In Kleczewskas „Totenfeier“ spielen Frauen die Aufständischen, die für die Freiheit und Unabhängigkeit Polens kämpfen. Auch der Hauptprotagonist des Dramas ist – anders als im Original - eine Frau, während die Figuren der katholischen Priester alles andere als Lichtgestalten sind. Die Inszenierung wurde von der Kritik hochgelobt, vom Publikum stark nachgefragt – es ist schwer an Karten zu kommen. Wie wird es weitergehen?
Klata: Falls es den Behörden nicht gelingen sollte, den Intendanten jetzt abzusetzen (das Amtsenthebungsverfahren ist schon seit einigen Monaten im Gange), besteht die Gefahr, dass man auf eine andere, bewährte Methode zurückgreift, die ich selbst im Stary Teatr erleben durfte. Der Vertrag von Głuchowski läuft in etwa einem Jahr aus. Das Ministerium wartet so lange, dann schreibt es einen Wettbewerb aus, den ein loyaler PiS-Kandidat ohne jegliche Erfahrung als Theaterintendant gewinnt. Auf diese Weise wird ein weiteres Theater in falsche Hände geraten und zerstört.
Uberman: Zwei erste große Zerschlagungen waren: 2016 das Teatr Polski in Breslau und 2017 das Stary Teatr in Krakau, an dem Sie Intendant waren. Zur Erinnerung: Die neuen Besetzungen an beiden Häusern erwiesen sich als derart ungeeignet, dass sogar das Kulturministerium sie nachträglich als große Fehler bezeichnete und beide wieder abberief, wobei die Entlassungen mit Unfähigkeit, Dauerkonflikten mit den Ensembles und in Breslau mit der Umleitung sehr großer Beträge aus dem Budget in die eigene Tasche des Intendanten begründet wurden. Deren Nachfolger, die schnell gefunden waren - diesmal ohne Wettbewerb - versprachen die Wiederaufnahmen alter erfolgreicher Inszenierungen. Und in Krakau erklärte man zudem, dass Sie wieder im Stary inszenieren werden. Waren dies nur mediale Versprechen?
Klata: Die beiden Geschichten sind etwas unterschiedlich. Das Ensemble in Breslau wählte den radikaleren Weg. Von den großartigen Schauspieler_innen, Regisseur_innen und Mitarbeiter_innen, die dieses Theater geprägt haben, arbeitet dort keiner mehr. Das Stary Teatr in Krakau existiert teilweise noch: Ein Teil des Ensembles ist geblieben, nicht alle Schauspieler_innen sind gegangen. Die, die geblieben sind, versuchen zu retten, was zu retten ist. So gab es dort eine äußerst gelungene Inszenierung der „Drei Schwestern“ in der Regie von Luc Perceval, eine Kooperation mit dem Warschauer TR-Theater. Aber sonst ist da nicht viel los, weil der dem Ensemble vom Ministerium aufgezwungene neue Leiter des Hauses ein Opportunist ist, der die Reaktion der Obrigkeit auf eventuelle Skandale fürchtet, und dazu zu wenig praktische Theatererfahrung hat und nicht weiß, wie man so ein Haus leitet. Ab und zu wird eine meiner alten Aufführungen gezeigt, sehr selten, obwohl die Karten immer sofort vergriffen sind. Es gab tatsächlich Gespräche, mich als Gastregisseur zu verpflichten. Ich will das aber nicht, weil ich kein Vertrauen zum jetzigen Intendanten habe. Ich glaube nicht, dass er keine Zensur ausüben wird. Generell ist die Lage im Stary jedoch besser als in Breslau, wo an der Stelle des Theaters einfach nur noch ein Loch ist. Dort lässt sich nichts mehr reparieren. Ich befinde mich in einer unerfreulichen Lage: Beide Theater waren meine künstlerische Heimat, beide existieren nicht mehr. In Breslau habe ich mehr als zehn Stücke inszeniert, danach übernahm ich das Stary Teatr, und auch dort habe ich viele Male Regie geführt.
Uberman: Kehren wir zum Anfang unseres Gesprächs zurück, zu „Act of Killing“, einem Stück über die Massenmorde an den Kommunisten nach dem Militärputsch von General Suharto 1965 in Indonesien und über das Fehlen jeglicher Schuldgefühle bei den Tätern, selbst viele Jahre später. Ihre Aufführung hat gegensätzliche Emotionen hervorgerufen. Die Resonanz in Krakau war groß, doch anders als bei Maja Kleczewskas „Totenfeier“.
Klata: Interessant war, dass zwei Personen die Premiere demonstrativ verließen: die für die Theater im Kulturministerium zuständige Person und der Theaterkritiker der liberalen Tageszeitung „Gazeta Wyborcza“, die der PiS sehr kritisch gegenübersteht. Leider wurde das polnische Theater in den letzten sieben Jahren stark politisiert. Für mich ist dies eine bedenkliche Entwicklung. Man erwartet vom Theater, dass es politischen Zielen dient und didaktisch ist. Entweder auf eine radikal rechte oder auf eine radikal linke Weise. Denn: „Wer nicht mit uns, der ist gegen uns“. Manche Dogmen dürfen nicht angetastet werden. Als Künstler finde ich für mich in diesem Entweder-oder keinen Platz. Auch bin ich der Meinung, dass dies der Moment ist, in dem die Kunst, das Theater, bedroht ist. Im Theater geht das Gespenst der Zensur um, im Namen der rechten und der linken Ideologie.
Uberman: Es gab aber auch empörte Stimmen, die fragten: „Wozu das Ganze? Was geht uns Indonesien an?“ Oder: „Worum geht es hier überhaupt?“ Hat das mit fehlendem Interesse an der Welt zu tun? Oder eher mit geistiger Trägheit?
Klata: „Wir wollen die Gewalt nicht sehen! Das ist unangenehm.“ Aber wenn wir eine Materie tiefer ergründen wollen, müssen wir die Freiheit haben zu nuancieren. Und die Freiheit, Fragen zu stellen, die auch für unsere Gruppe unbequem sein können. Natürlich erzählt mein „Act of Killing“ nicht von der polnischen Wirklichkeit im Jahr 2023. Die Situation ist noch nicht ähnlich, aber die Dämonen wurden bereits losgelassen. Obwohl interessant ist, dass man die indonesische Flagge nur umzudrehen braucht und schon hat man eine polnische Fahne. Und es stimmt, dass die Tendenzen, die sich in Indonesien abzeichneten, bevor man anfing, die politischen Gegner zu ermorden, sind auch in Polen schon jetzt deutlich zu erkennen. Unsere Gesellschaft ist sehr stark polarisiert, und es besteht die Gefahr, dass sich auch die andere Seite, die freiheitliche und liberale, vom Sektierertum anstecken lässt. Vom Gefühl der Dreistigkeit, von der ungestraften Vernichtung des Gegners. In Polen wird die Bildung, die Kultur, der öffentliche Dienst zerstört, der Respekt vor dem Staat und der Regierung. Man weckt die niedersten Instinkte, schürt Xenophobie, untergräbt moralische Grundsätze und erlaubt, in die eigene Tasche zu wirtschaften. Ich bin entsetzt, wie stark die zivilgesellschaftlichen Mechanismen bereits außer Kraft gesetzt wurden, wie sehr wir zurückgeworfen wurden. Es gilt also, auf der Hut zu sein. Vor allem aber sollten wir nicht vergessen: Willst du die Welt verändern, fange bei dir selbst an. Dazu kann Theater gut sein.
Uberman: Was zeigt man zurzeit auf polnischen Bühnen?
Klata: Es gibt zwei Wege. Zum einen den Rückzug ins Private. Die sogenannte „kleine Stabilisierung“. Ich habe zuletzt in Prag gearbeitet, dort „Maß für Maß“ und den „Faust“ am Theater Divadlo pod Palmovkou inszeniert, und meine tschechischen Kolleg_innen erzählten mir, dass es bei ihnen nach 1968, nach dem Einmarsch russischer Panzer, eine Art innere Emigration gegeben habe. Eine Normalisierung. In Polen war es zu kommunistischen Zeiten im Übrigen ähnlich: Man flüchtete in die kleinen Themen, um den Bären nicht zu reizen, man sprach in Anspielungen. Der zweite Weg ist das nationale Programm: Stücke über polnische Helden, die verstoßenen Soldaten, polnische Klassiker, religiöse Geschichten.
Uberman: In vielen Spielplänen habe ich auch Farcen gesehen. Sie selbst haben am Teatr Wybrzeże in Danzig „Der nackte Wahnsinn“ von Michael Frayn inszeniert. Aber es war wohl nicht Ihre Absicht, das Publikum zum Lachen zu bringen. Im dritten Akt herrscht rundherum Krieg.
Klata: „Der nackte Wahnsinn“ ist Front-Theater, wir sind bereit. Das war auch meine Antwort auf den Ukraine-Krieg. Wir haben auch Sondervorstellungen für Soldaten und Soldatinnen gegeben, dabei stellten wir fest, dass es in der polnischen Armee viele Pilotinnen gibt. Sie kamen in ihren Ausgehuniformen ins Theater, aber manchmal bekamen wir die Nachricht, sie könnten nicht kommen, weil sie kurzfristig in Kampfbereitschaft versetzt wurden. Dies hing mit großen russischen Truppenkonzentrationen an der Grenze zu Polen im Kaliningrader Gebiet zusammen. Diese Panzer waren schon etwas früher in Litauen zu spüren, wo ich im Herbst 2021 im Klaipedos Dramos Teatras „Boris Godunow“ inszenierte. Aber damals, im Sommer 2022, kam mir der Gedanke, falls der Krieg zu uns käme, könnten auch wir als Künstler zu etwas nützlich sein: Wir schlagen ein Zelt auf und spielen für unsere Jungs an der Front etwas Lustiges. Ich sage das jetzt etwas augenzwinkernd, aber der Eindruck, der Krieg sei sehr nahe, war im Sommer 2022 spürbar. „Der nackte Wahnsinn“ war darüber hinaus meine Reaktion auf das immer absurder werdende Theaterleben in Polen. Das Stück handelt schließlich davon, dass den Schauspieler_innen der Sinn für ihre Arbeit gänzlich abhandenkommt. Das kennen wir. Die Schlinge von rechts zieht sich langsam zusammen, das Geld für Kultur, für die Theater, wird seit sieben Jahren immer knapper, und durch die Unterfinanzierung fällt alles auseinander. Deshalb bemühen sich immer mehr Theater, um überhaupt überleben zu können, um eine Förderung des Kulturministeriums, das gern gibt, aber nur wenn es bei allem mitbestimmen darf. Intendant_innen, die ihre Autonomie verteidigen, verschwinden nach und nach und werden durch Karrieristen ersetzt, viele Regisseur_innen und Schauspieler_innen sind Persona non grata, und es wird für sie immer schwieriger, Arbeit zu finden. Stattdessen bezuschusst das Ministerium mit den Geldern, die für Kultur vorgesehen sind, militante Gruppen wie den „Verein des Unabhängigkeitsmarsches“, damit sie sich für ihre „patriotischen“ Kundgebungen Beschallungsanlagen kaufen können.
Uberman: Diese xenophoben und homophoben Organisationen veranstalten jedes Jahr zum polnischen Unabhängigkeitstag am 11. November einen sogenannten patriotischen Marsch in Warschau. Nationalistische, rechtsextreme und militante Gruppen wüten dann stundenlang in der Hauptstadt. Die Versuche seitens der Stadt, die Märsche verbieten zu lassen, scheitern immer in höchstrichterlicher Instanz.
Klata: Diese Gruppen organisieren jetzt auch antiukrainische Demonstrationen. Sie sind dafür, die Ukraine zwischen Polen und Russland aufzuteilen: Wir nehmen den Westen des Landes mit Lemberg und Russland den Rest. Das entspricht einem alten Vorschlag Putins. Die PiS-Partei unterstützt diese extrem rechten, faschistischen und xenophoben Gruppierungen, weil sie ein Interesse daran hat, dass es keinen politischen Konkurrenten rechts von ihr gibt. Das Heranzüchten eines Ungeheuers, dass man glaubt unter Kontrolle zu haben, kennt man schon aus der Geschichte.
Uberman: Wie sollte man in den heutigen Zeiten ein Theater leiten? Eher vorsichtig oder mutig? Wie haben Sie es gemacht damals, als PiS an die Regierung kam?
Klata: Wir haben weiter mutig Theater gemacht. Für mich war klar, dass ich nichts zu verlieren habe. Aber ich möchte meinen Kolleg_innen keine Ratschläge geben, es gibt verschiedene Strategien zu überleben. Ich kann bloß sagen, was ich bei meinen Regie-Studierenden an der Theaterakademie in Warschau sehe. Sie sind die Zukunft des polnischen Theaters. Wir beschäftigen uns zurzeit mit dem antiken Theater als Werkzeug von Veränderung und gesellschaftlicher Reflexion. Es ist kein Zufall, dass sich ein Teil der Studierenden dafür ausgerechnet „Die Troerinnen“ ausgesucht hat. Ihre Entscheidungen sind sehr kompromisslos, ideologisch und ästhetisch, ihr Denken gibt mir Hoffnung, dass sich in Polen etwas ändern wird, sowohl politisch als auch in der Kunst.
Uberman: Sie haben 2018 „Die Troerinnen“ am Teatr Wybrzeże in Danzig aufgeführt, also noch vor dem Ukraine-Krieg. War das eine Vorahnung?
Klata: Ja die Aufführung steht jetzt wieder auf dem Spielplan, und zwar im Shakespeare-Theater in Danzig, wir fahren damit in Kürze zur Theaterolympiade nach Budapest. Es ist außerordentlich schmerzhaft zu sehen, wie sehr durch den Kontext neue Aspekte hinzukamen.
Uberman: Der Intendant des Nationaltheaters in Mannheim Christian Holtzhauer war im Dezember 2022 Jurymitglied des Theaterfestivals „Boska Komedia“ („Göttliche Komödie“) in Krakau. Danach schrieb er für die Nachtkritik einen begeisterten Bericht („Brief aus Polen“) darüber, wie fantastisch das polnische Theater sei und dass ihm Schikanen seitens der Regierenden und Budgetkürzungen nichts anhaben könnten. Auch gäbe es in Polen keine Zensur. Seiner Meinung nach sei das polnische Theater momentan viel besser als das deutsche. Hatte Herr Holtzhauer in Krakau eine rosarote Brille auf, oder sind wir Polen zu selbstkritisch?
Klata: Ich freue mich sehr, dass die Festivalaufführungen den ausländischen Gästen gefallen. „Boska Komedia“ ist das Fest der Feste unter den polnischen Theaterfestivals. Es ist fantastisch, dass es einen so starken Eindruck hinterlässt. Doch aus Sicht eines Künstlers, dessen Aufführungen vom Anfang des Festivals 2008 jedes Jahr dorthin eingeladen wurden, erlaube ich mir zu sagen, dass der Alltag ganz anders aussieht. Übrigens, das Budget des Festivals wurde vom Ministerium stark gekürzt.
Uberman: …und soll im nächsten Jahr um weitere zwanzig Prozent schrumpfen.
Klata: Die Organisatoren wollten unseren „Nackten Wahnsinn“ aus Danzig einladen, aber es fehlte das Geld dazu. Es war für sie billiger, „Act of Killing“ ins Programm aufzunehmen, weil es eine Krakauer Produktion war. Auch andere prominente Theaterfestivals bekommen viel weniger Fördermittel als früher und stehen unter großem ideologischen Druck. Der Handlungsspielraum wird dadurch immer kleiner. Gefeilscht wird auch darüber, wie viele Personen das Kulturministerium in die Jury eines Festivals entsenden darf. Deshalb wurde zum Beispiel beim Festival „Klasyka Polska“ („Die Polnische Klassik“) Maja Kleczewskas „Totenfeier“ demonstrativ übergangen.
Uberman: Von Ihnen, Maja Kleczewska oder Krystian Lupa waren – wie mir scheint – in letzter Zeit keine Inszenierungen mehr als Gastspiele in Deutschland zu sehen. Präsent sind Marta Górnicka und Ewelina Marciniak, aber die beiden arbeiten in Deutschland.
Klata: Ja. Die Möglichkeit von Gastspielen, die noch vor ein paar Jahren bestand, um meine Aufführungen im Ausland zu präsentieren, wurde komplett gekappt. Die Gastspielreisen wurden stets in Zusammenarbeit mit dem Adam-Mickiewicz-Institut organisiert, das für die Förderung der polnischen Kultur im Ausland verantwortlich ist. Jetzt wird das Institut von der Kandidatin der PiS-Partei geleitet. Und da es eine schwarze Liste von Künstler_innen gibt, die keine Zuschüsse für Gastspielauftritte bekommen, fahren wir nicht mehr. Und selbst wenn beim Adam-Mickiewicz-Institut für uns Einladungen eingehen, werden wir darüber nicht informiert. Ich habe von Kollegen im Ausland gehört, dass es einfacher wäre, eine meiner Inszenierungen aus Tschechien, Litauen oder Schweden einzuladen, als eine Produktion aus Polen. Der kulturelle Austausch und Umlauf künstlerischer Impulse wurde eingefroren. Das gilt übrigens in beide Richtungen, denn es gab zuletzt auch keine deutschen Aufführungen in Polen mehr zu bestaunen. Man kann deshalb als polnischer Regisseur am europäischen Kulturleben nur dann teilnehmen, wenn man im Ausland mit einem ausländischen Ensemble als Gastregisseur arbeitet. Eben das habe ich zuletzt in Tschechien, Litauen und Schweden getan. Es gibt keine Möglichkeit mehr, die Kultur des eigenen Landes auf europäischen Festivals zu zeigen. Wir sind abgeschnitten und dies eindeutig aufgrund politischer Zensur. Die es ja angeblich gar nicht gibt. Genauso wie es keine schwarze Liste von Künstler_innen gibt. Trotzdem weiß jeder, wer darauf steht. Paradoxa und Absurditäten haben in Polen eine lange Tradition.
Uberman: Im Herbst gibt es Wahlen. Sie planen für den Spätherbst das Nationaldrama „Die Befreiung“ von Stanisław Wyspiański herauszubringen. Ist das ein gutes Omen?
Klata: Hoffentlich. Doch selbst wenn die Opposition die nächsten Wahlen gewinnen sollte, heißt das noch lange nicht, dass die wirtschaftliche Talfahrt, in der das Land derzeit steckt, sogleich gestoppt wird. Ähnlich wie in den Zeichentrickfilmen: Die Figur flieht, plötzlich hat sie keinen Boden mehr unter den Füßen, aber sie läuft noch eine Weile über den Abgrund weiter. Ich habe den Eindruck, dass wir uns in Polen momentan so verhalten. Wir wollen die nahende ökonomische Katastrophe, die die PiS verschuldet hat, nicht wahrhaben. Die Regierenden geben all das Geld aus, das durch die gute Konjunktur in den Jahren zuvor erwirtschaftet wurde, die Korruption in PiS-Kreisen blüht, wir haben eine zwanzigprozentige Inflation. Die Standards im öffentlichen Leben sind in diesen langen sieben Jahren erschreckend tief gesunken. Eine mögliche Heilung der Wunden wird sehr viel Zeit in Anspruch nehmen. Das Traurige ist, wir alle wissen, sobald es schlechter läuft, gibt es als Erstes kein Geld mehr für die Kultur.
Uberman: Was also tun?
Klata: Weiter-machen. Nicht aufgeben. Das habe ich von meinem Vater gelernt, der in den 1980er Jahren aktives Mitglied der „Solidarność“ war. Als er aus dem Gefängnis zurückkam, fragte ich ihn, wie er es überstanden habe. Er antwortete: „Wenn du in eine Zelle mit Kriminellen gesperrt wirst, muss du sofort den Stärksten von ihnen angreifen. Auch wenn du verlierst, wird man dich dann achten.“
Übersetzung: Iwona Uberman und Andreas Volk
Publikation: "Theater heute" Heft 7/2023
© Tamer Bayri
Ein kleiner Ort
Im Hinterhof der Prinzenallee 33 verbirgt sich ein spannender Ort. Sehr bekannt ist er noch nicht, obwohl inzwischen einige Inszenierungen, die dort stattfinden, als Geheimtipp gelten könnten. Man kann hier Theaterabende erleben, die tiefen Eindruck hinterlassen. Sparsam in Mitteln, durch ihre Themen und Wahrhaftigkeit in der Darstellung wirken manche Aufführungen noch lange nach. Die Rede ist vom Ballhaus Prinzenallee, das seit 2021 zur Theaterlandschaft Berlins gehört. Die Idee, im Wedding ein „nonstop politisches Theater“ zu gründen, kam von Ufuk Güldü, dem Leiter des seit 2018 auf Türkisch spielenden Theater28. Zusammen mit zwei Freunden aus der Theaterszene beschloss er einen Freiraum zu schaffen für engagierte Projekte junger Kunstschaffender mit Migrationshintergrund, für Newcomer:innen in der Stadt und für Autor:innen, Regiseur:innen sowie Darsteller:innen, die ihre Länder verlassen mussten oder aus sonstigen Gründen dort keinen Platz für sich mehr sahen. Aber auch Theater der schon in Berlin etwas mehr etablierten türkischen Community sollte an diesem Ort nicht fehlen, genauso wie die Möglichkeit einer Begegnung und engen Zusammenarbeit zwischen nichtdeutschen und deutschen Künstler:innen. Bei Letzteren handelt es sich um solche, die sich wünschen, tiefer in die ursprünglichen Lebenswelten ihrer migrantischen Kolleg:innen einzutauchen, um sie nicht nur oberflächlich zu kennen.
All denjenigen, denen die Geschichte des Ballhaus Naunynstraße bekannt ist, wird das Programm von Ballhaus Prinzenallee zum Teit bekannt vorkommen. Aber seitdem die Leiterin des Ballhaus Naunynstraße Shermin Langhoff mit ihrem Team ins etablierte Gorki Theater umgezogen ist, wo sie ein „post-“ oder „postpost-“migrantisches (also allgemein deutsches) Programm umsetzt, gibt es für die neu dazugekommenen oder jungen Nachwuchskünstler:innen, die sich mit ihren persönlichen Migrationsgeschichten und manchmal noch frischen Fluchterlebnissen aus ihren Herkunftsländern auseinandersetzen wollen, am Gorki nicht mehr genügend Platz. Auch Ballhaus Naunynstraße hat inzwischen sein Profil geschärft und sich auf die black community fokussiert. Damit paßt auch hierher nicht jedes Thema und jede Herkunftslandgeschichte hinein.
Güldü, Oliver Toktasch und Christian Bojidar haben diese Lücke erkannt und darin eine Herausforderung für sich gesehen. So wurde Ballhaus Prinzenallee zur Heimat für afghanische Jugendliche, russische Gestrandete, aus vielen Ländern stammende Theaterpädagog:innen in spe (die dort ihre Eigeninszenierungen machen) und deutsch-türkische Kunstschaffende, für die es in der Türkei nicht mehr und in Deutschland immer noch nicht ausreichend Platz an Theatern gibt.
Ballhaus Prinzenallee ist ein wichtiger Ort. Dort werden schmerzhafte Themen wachgehalten, da manche Wunden der Gegenwart, solange sie noch bluten, nicht vergessen werden sollen. Dazu gehören die Morde der Terrorgruppe NSU. Das zu diesem Thema 2015 entstandene Stück „NSU – Auch Deutsche unter den Opfern“ von Tugsal Mogul fand damals viel Beachtung und wurde an mehreren Theatern inszeniert. Heute kann man es kaum noch irgendwo sehen, obwohl vieles darin weiterhin sehr aktuell ist. Am Ballhaus Prinzenallee steht das Stück – nachhaltig – im Spielplan, es wurde vom Ehepaar Övul und Mustafa Avkiran inszeniert. Moguls Drama und die Inszenierung passen gut zueinander. Das auf Fakten und Realien basierende nüchterne Erzählen zeigt komprimiert eine unglaubliche (und beunruhigende) Anhäufung von Zufällen: Bearbeitung der Mordfälle durch zwielichtige Ermittler beim Verfassungsschutz, Mitbeteiligung hochkrimineller, rechtsradikaler V-Männer an den Ereignissen, die nachträglich vom Verfassungsschutz gedeckt wurden, „versehentliche“ Vernichtung wichtiger Akten, verhinderte Ermittlungen in der Nazi-Szene, Druck auf die Angehörigen der Opfer, und Versuche, die Narration von ausländischer Kriminalität und Abrechnungen türkischer Drogenmafia durchzusetzen – aus diesem Netz entsteht im Stück ein allgemeines, atmosphärisch dichtes Bild vom Klima eines Landes, in dem der NSU entstehen, sich verbreiten und ungestört morden konnte.
Um das alles anschaulich und eindrucksvoll darzustellen, genügt im Ballhaus ein Bühnenbild aus Aktenseiten. Zum Teil hängen sie von der Decke, zum Teil liegen sie zerstreut auf dem Boden, von oben tropft auf sie in der Mitte des Raumes rote Flüssigkeit, die aussieht wie Blut. Drei Schauspieler:innen spielen mehrere Personen: über das Geschehen reflektierende, gut informierte Narratoren, Gerichtspersonal mit Staatsanwälten, Rechtsanwälten, Richtern, Zeugen, einen Polizisten, Vertreter der Familien der Opfer. Es gibt weitere Szenen mit verschiedenen Verfassungsschutz-Mitarbeitern, Augenzeugen, die im Verfahren nicht gehört wurden, türkischen Mitbürgern, die die Opfer kannten. Die nüchterne und trotzdem mit starken Bildern arbeitende Inszenierung wurde Anfang 2023 in einem Bericht des Tagesspiegel anerkennend besprochen: „Es ist ein Theater, das keine Effekte braucht, um Wirkung zu erzielen“ (Patrick Wildermann). Der brennende Ernst des Themas ist bis heute geblieben und wirkt so intensiv nach wie vor.
Es gibt dabei eine kleine Veränderung, die sich anzusprechen lohnt. Bei der Premiere wurde das Stück von Freya Kreutzkam, Lukas David Schmidt und Jules Armana gespielt. Da Rollenübernahmen in der freien Szene noch häufiger als bei festen Ensembles vorkommen, wurden die Partien von Jules Armana von Jonas Broxtermann übernommen. Somit werden alle Figuren, auch die der türkischen Mitbürger und Angehörigen der Opfer ausschließlich von deutschen Schauspieler:innen verkörpert. Alle drei spielen sie behutsam, mit innerem Facettenreichtum und gespürter Tiefe. Die Situationen, in die diese Menschen geraten sind, die Albträume der Realität, ihr Schmerz, Fassungslosigkeit und Versuche, Haltung und Würde zu bewahren, werden feinfühlig vermittelt und berühren. Es muss nicht immer falsch sein, jemanden zu repräsentieren. Wenn man es so macht, wie in dieser Inszenierung, ist es gerade richtig. Hinter der Darstellung spürt man eine klare Haltung: „Wir machen hier Euer Unglück zu unserer Sache“. Es ist sicherlich ein wichtiger Beitrag zu der allgemeinen Repräsentationsdebatte.
Ballhaus Prinzenallee ist auch ein guter Ort. „Remembering Afghanistan“ ist eine Inszenierung mit afghanischen Jugendlichen, die unter der Regie von Frishteh Sadati und mit Betreuung erfahrener Theaterpädagoginnen entstand. Es ist eine Geschichte über den Weg, den die jungen Leute zurückgelegt haben, um nach Deutschland zu kommen. Sie kamen auf Booten über das Mittelmeer, über grüne Grenzen, über einige Länder, mit mehreren Stationen. In kurzen, kaleidoskopischen Szenen werden Erinnerungen aus der freudigen Kindheit in Afghanistan dargestellt, dann Abschiede von Freunden, schwieriges Ausharren in der Türkei, illegale Grenzübertritte mit Schleusern. Angst und Spannung sind oft ganz stark spürbar, Tragödien wie: sich beim Rennen ums Leben zu verirren oder verlorenzugehen und sich plötzlich ganz allein, ohne Eltern wiederzufinden und nicht zu wissen, wohin; auch nirgendwo zurück gehen können – diese Geschichten gehen unter die Haut.
Auch die sparsam beleuchtete Bootsüberfahrt auf den überfüllten Booten ist zu erleben. Man spürt, dass dies nicht geschauspielert wird. Die Körper der Jugendlichen strahlen aus, woran sie sich erinnern. Es ist mutig, diese Erinnerungen zuzulassen, es ist mutig, von ihnen öffentlich zu erzählen. Auch hier drängt sich das Wort Behutsamkeit auf. Frishteh Sadati weiß, was in den Gruppenmitglieder hochkommt, auch sie kennt genau diese Erinnerungen. Aber für diese Gruppe ist es offensichtlich der richtige Weg, das Traumatische auszuleben, diese Erlebnisse hinter sich zu lassen, um in Deutschland besser anzukommen. Die Wahrhaftigkeit, die an diesem Abend überall sichtbar ist, ist trotz asketischer Raumgestaltung und darstellerischen Unzulänglichkeiten ein sehr starker Abend für das Publikum.
Ein Experiment anderer Art ist „Wohin“ in der Regie von Oliver Toktasch. Das Plakat ist hier irreführend: man stellt sich darauf ein, ein Stück von Hüseyin Alp Tahmez zu sehen, das über die Wahl des Fluchtlandes (Wunschländer wie Spain, UK, France, Germany sind durchgestrichen) und Erlebnisse auf dem Weg erzählt. Zwar steht gleich in der Programmankündigung, dass es in der Inszenierung eher darüber gehen wird, zu thematisieren, wie die in Deutschland lebenden Schauspieler:innen versuchen, sich den Erlebnissen der Flüchtlinge anzunähern, aber auch dazu fehlt auf der Bühne das Stück. Was man zu sehen bekommt, ist eine Mischung aus Szenenfragmenten, die über Flucht erzählen und kurzen, persönlichen Vorstellungen der Schauspieler:innen. Es kommt auch zum Schluss eine Musical-Szene vor, die vielleicht das traurige Thema zum „guten Ende“ bringen soll. Klar ist es nicht. Deutlich wird jedoch, dass es bestimmte Stücke, die nötig wären, noch gar nicht in Deutschland gibt, auch zu wenig Background für eine eigene Stückentwicklung. Wie tauscht man die Erfahrungen der Deutschen und der Neuankömmlinge aus? Wie kommt man sich wirklich nahe, um nicht in Klischees und Stereotypen verstrickt zu bleiben? Was könnte man miteinander teilen jenseits des gemeinsamen Alltags? Wie könnte eine gemeinsame Kultur aussehen? Auch dafür ist es gut, einen Ort wie Ballhaus Prinzenallee zu haben, um auf Defizite hinzuweisen, die Ausgangspunkte zu finden und noch nicht entdeckte Fragestellungen an Autor:innen und Regisseur:innen zu vermitteln, zum Neuen zu inspirieren. Es lohnt sich also bei der Prinzenallee 33 vorbeizuschauen und das Ballhaus Prinzenallee zu weiteren Anstrengungen anzuspornen, dem Haus das Recht zuzugestehen, zu glänzen aber auch bei manchen Projekten ohne Scheu zu verstolpern. Davon können nicht nur die an diesem kleinen Ort schaffenden, engagierten Künstler:innen einen Nutzen haben.
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Fantastisches Theater
Stück einer polnischen Autorin beim Stückemarkt des Berliner Theatertreffens 2011
Wenn ein junger deutscher Autor gefragt nach dem Thema seines Schaffens mit „Ich bin auf Deutschland und deutsche Angelegenheiten fixiert“ antworten würde, brächte ihm das sicherlich weder Sympathie noch Popularität ein. Jedes Land hat jedoch seine eigenen Sitten und was hier nicht geht, geht vielleicht gut bei den Nachbarn, kulturelle Muster hängen oft mit der Geschichte zusammen. Małgorzata Sikorska-Miszczuk wurde in Polen schon vor einigen Jahren als eine sehr interessante Autorin entdeckt, sie wird geschätzt, gilt aber auch als umstritten. Sikorska hat einen ungewöhnlichen Lebenslauf und vielseitige Schreiberfahrungen. Die in den 60er Jahren geborene Warschauerin studierte Politikwissenschaften und Journalismus in der Hauptstadt und hat bald entschieden, in die Kunst zu wechseln. Sie lernte Drehbuchschreiben an der renommiertesten polnischen Hochschule für Film, Fernsehen und Theater in Lodz (die mit Namen wie Andrzej Wajda, Jerzy Skolimowski und Roman Polanski verbunden ist). Erfolgreich als Drehbuchautorin für Spielfime und Fernsehserien, begnügte sich Sikorska-Miszczuk nicht damit, auf diesem Feld zu bleiben, sondern erweiterte ihr Schaffen um Hörspiele und Erzählungen, auch Werbetexte.
Vom Theater hielt sie sich sehr lange fern, obwohl sie schon immer eine große Faszination für diese Kunstgattung verspürte. Das Leben der Autorin scheint jedoch dadurch bestimmt zu werden, nie angekommen zu sein, sondern stets nach neuen Erfahrungen und weiteren Herausforderungen zu suchen. Preise – es waren nicht wenige – sind für sie Bestätigung aber kein Grund bei „ihrem Leisten“ zu bleiben. Sie sind eher ein Signal, dass es an der Zeit ist, nach Neuem zu suchen. Mit 40 fängt Sikorska ein Studium von Gender Studies an und stößt gleichzeitig auf ein Projekt des Theaters Teatr Rozmaitosci. Die Leiter des Hauses sind der Meinung, dass dramatisches Schreiben handwerklich gelernt werden kann, entgegen der bis dahin im Land verbreiteten Auffassung, dass man als Dramatiker geboren wird und „natürliches Talent“ sowie „Wunder des Schaffens“ alles sind, worauf man sich verlassen muss. Sikorska-Miszczuk meldet sich zur Werkstatt an und ihr erstes Drama „Psychoterapia dla psów i kobiet“ („Psychotherapie für Hunde und Frauen“) wird einer von zwei Texten, die am Ende des Studiums im Teatr Rozmaitosci eine öffentliche Lesung erfahren.
2006 gewinnt Sikorska mit dem Drama „Śmierć Człowieka-Wiewiórki“ („Der Tod des Eichhörnchenmenschen“ übersetzt von A. Volk) einen Wettbewerb und erlebt nicht nur die erste polnische Premiere ihres Stückes, sondern auch Lesungen in Schweden und den USA. Die Inszenierung von Marcin Liber wird auf drei Festivals in Deutschland präsentiert: 2007 bei „Cut and Paste“ im HAU in Berlin, bei Transfusion auf Kampnagel in Hamburg und ein Jahr später bei der Theaterbiennale „Neue Stücke aus Europa“ in Wiesbaden. „Der Tod des Eichhörnchenmenschen“ handelt von der RAF. Als eine skurrile Farce wird das Leben von Ulrike Meinhof vermischt mit Fantasie-Erfindungen erzählt, wobei die Fragen, wie werden Menschen von Macht geprägt und wie schlägt sich Politik im Privatleben nieder, über die Geschichte der Journalistin hinausgehen.
Es ist einer der wenigen Texte der Autorin, der keine polnische Thematik behandelt. Sonst ist Sikorska-Miszczuks’ Thema hauptsächlich ihr Land Polen, genauer gesagt die polnisch-polnischen Angelegenheiten, darunter insbesondere die, die am meisten traumatisch besetzt sind. Die Autorin setzt sich mit schmerzhaften aktuellen Problemen auseinander und sie tut es nicht selten auf eine Weise, die man in Polen „den Stock in einen Ameisenhaufen stecken“ nennt. Sie stellt nationale Stereotypen bloß und kritisiert scharf den polnischen Nationalismus, was in Polen - manch deutscher Leser mag staunen - nicht populär ist.
In ihrer Weltbetrachtung (Selbstbetrachtung inbegriffen) steht Sikorska-Miszczuk in der Tradition von Witkacy, Gombrowicz und Mrożek (der erste von ihnen wartet immer noch darauf, in Deutschland entdeckt zu werden). Alle drei kennzeichnete eine sehr kritische, sogar auslachend-verhöhnende und nicht realistische Sicht auf die Welt. „Realismus ist langweilig, die Avantgarde ist nicht tot“ – Sikorska-Miszczuk drückt einfacher als ihre Vorgänger dieselben Gedanken aus. Diese Einfachheit passt zu ihrer Zeit. Die Autorin plädiert für das Theater des Absurden, für „pure nonsense“ und das Surreale. Das Stück „Szajba“ („Rad ab“, übersetzt von A. Volk) ist eine verrückte, absurde und schwarze Komödie, die in Polen auch als das „komödische Nationaltheater“ bezeichnet wurde. Das Drama wurde als „erste polnische ’political fiction & comedy’“ gefeiert, übrigens sehr oft verbunden mit der Zusatzbemerkung: „die dazu von einer Frau geschrieben wurde“ – auch das dürfte dem deutschen Leser eher etwas ungewohnt vorkommen.
Das Innovative bei Sikorska-Miszczuk liegt einerseits im Erschaffen einer neuen Form in der polnischen Dramatik, andererseits im Wiederbeleben und Weiterentwickeln der polnischen Tradition des Absurden. Ein anderes, interessantes Element ihres Schaffens ist die fiktionale und absurde Darstellung von Themen zeitgenössischer Geschichte. Im Fall von „Burmistrz“ („Der Bürgermeister“ übersetzt von B. Voelkel) ist es sogar ein Thema, das in Polen bisher – falls überhaupt angesprochen – fast ausschließlich in dokumentarisch-historischer Form angefasst wurde. Das Drama (ähnlich wie bei der Meinhof-Geschichte) ist vor allem ein Geschöpf der Phantasie, obwohl der Auslöser, der zum Entstehen des Werkes führte, eine von der Dramatikerin gelesene, auf Fakten basierende Zeitungsreportage war. Es war ein Artikel der in Polen bekannten Tageszeitung Gazeta Wyborcza, in dem berichtet wurde, was mit dem Bürgermeister von Jedwabne passierte, nachdem er erste offizielle Feierlichkeiten zum Jahrestag des Mordes im Ort durchführte. Er wurde von den Einwohnern abgewählt und emigrierte in die USA. Um kurz zu erinnern, Jedwabne ist der Ort, wo 1941 unter deutscher Besatzung nicht die SS ein Massaker an jüdischen Bewohnern verübte, sondern die polnischen Mitbewohner. Trotz des historischen Hintergrundes ist „Der Bürgermeister“ eine bizarre Fantasie-Erfindung, die nicht der Realität, sondern der Welt der Kunst entsprungen ist.
Wer nun erwartet, dass Sikorska-Miszczuk zu einer Leitfigur oder Richtungsvorgeberin in der polnischen Literaturwelt werden könnte, wird schnell enttäuscht sein. Auch hier steht die Autorin in der Tradition von Künstlern, die nicht als Vorzeige-Figuren taugen. Man kann sie nicht in eine vornehme Schublade stecken, nicht mal in eine Schublade, die nur für eine Richtung oder Position gilt. Ihre Texte strotzen vor Widersprüchen, viele Aussagen sind politisch und menschlich inkorrekt, man findet Äußerungen, die peinlich sind und nicht in einen gesellschaftlichen Salon gehören, manches bringt die Zuhörer in Verlegenheit. Aber gerade Sprachschöpfungen und Wortspiele sind Sikorskas Stärke. Sie schöpft aus den Volkssprachen (in einem Land, wo noch vor kurzem Dialekte als unfein galten) und aus der Fäkalsprache (was zwar seit den Erfolgen von Dorota Masłowska nicht mehr ganz verpönt, aber bei der „hohen“ Literatur immer noch nicht gut angesehen ist). Musikalität der Texte ist ebenfalls ein wichtiger Aspekt.
Das Stück „Der Bürgermeister“ hat sich als einer von acht aus insgesamt 356 Texten, die zum Stückemarkt des Berliner Theatertreffens 2011 eingereicht worden waren, durchgesetzt. Das diesjährige Motto des Wettbewerbs lautete „Erkenne dich selbst, verrate den anderen“. Man könnte sagen, dass das Drama von Sikorska-Miszczuk mit seinem Thema zu diesem Leitmotiv wie „ Arsch auf Nachttopf“ passt. Es ist anzunehmen, dass eine so formulierte Einschätzung der Autorin gefallen würde. Sie könnte ihrer Feder entstammen.
Erschienen in MOE-Kulturnewsletter 2011
Die Welt hereinlassen
Eine Einmischung von außen zum Theatertreffen
Das Theatertreffen Berlin zieht die Aufmerksamkeit nicht nur im deutschsprachigen Kulturraum auf sich. Auch wir, die ausländischen Journalisten, schauen uns die Stücke und Veranstaltungen an und suchen dort nach gewichtigen Inspirationen und Anregungen, um sie über die Grenzen zu tragen. Ein Fazit kann natürlich erst nach dem Festival gezogen werden und für meinen Bericht nach Polen werde ich dies dann tun. Aber schon jetzt möchte ich mich an der deutschen Diskussion beteiligen, die wie jedes Jahr im Umfeld des TT stattfindet, öffentlich und privat.
Es zeichnet sich bereits ab, dass die Jury auch diesmal genügend wirklich bemerkenswerte Inszenierungen fand, die einen Überblick über das Spektrum und Möglichkeiten des Theaters in deutschsprachigen Ländern bieten. Es sind Arbeiten, die ein Lob verdient haben, und denjenigen, die sie kreiert haben und die sie spielen, gebührt Anerkennung. Der Platz dieser Stücke in der Theaterlandschaft ist mehr als berechtigt und er soll ihnen hier nicht streitig gemacht werden.
Obwohl das Theatertreffen noch lange nicht zu Ende ist, kann ich in diesem Jahr meine Enttäuschung bereits jetzt spüren. In der politischen und gesellschaftlichen Situation, in der wir uns heute in Europa befinden – in Polen spürt man sie alltäglich noch schmerzhafter als hier in Deutschland – scheint mir die gut gelöste Aufgabe, die zehn bemerkenswertesten Produktionen auszuwählen, einfach zu wenig zu sein. Die diesjährige Auswahl erweckt den Eindruck, einen Rückzugsraum zu bieten, um den Problemen da draußen kurz entfliehen zu können. Dafür sorgt beispielsweise die poetische Welt von „Girl from thr Fog Machine Factory“ und auch die drei Stunden des amüsanten „Tartuffe oder das Schwein der Weisen“ bieten gute Laune und sind bestenfalls ein „Persil“-Geständnis: ja, wir und haben uns selbst in diese schlimme Lage gebracht und stecken da jetzt drin.
Reicht dies? Ist es nicht eine Verkennung des Theaters, wenn man es auf eine solche Rolle reduziert? Das Theater kann viel mehr und das wissen die Juroren auch. Warum sonst würde „Die Nacht in Lissabon“ auf der Longlist stehen, die den politisch inzwischen so unliebsamen Themen von Emigranten und Flüchtlingen nicht ausweicht, auch an deutsche Emigrantengeschichten und deutsche Vergangenheit erinnert und Empathie weckt? Wäre es nicht wichtiger, gerade anhand eines solchen Stückes den menschlichen Umgang miteinander in schweren Zeiten zu beobachten, statt sich genau anzuschauen, wie unsere heutigen Geschlechterkämpfe in der gehobenen Mittelklasse aussehen? Sie wurden sicherlich in „Hotel Strindberg“ glänzend dargestellt.
Wäre es nicht dringlicher, mehr Raum der Problematik zu geben, wie sie in „Im Herzen der Gewalt“ zum Ausdruck kommt: Wie meidet man die Vorurteilsfalle, wenn man mit Ereignissen konfrontiert wird, die den Mustern entsprechen, auf denen diese Vorurteile beruhen? Diese Longlist-Inszenierung plädiert dafür, die Welt differenzierter anzusehen und mutet uns komplizierte, relevante Inhalte zu.
Das bisherige Begleitprogramm, das sich der Frage widmet, wie man Theaterstrukturen verändert, um eine demokratischere und transparentere Intendantenwahl zu ermöglichen oder wie das Theatersystem durchlässiger gemacht werden kann, inspiriert zu noch einer weiteren Überlegung. Könnte man das Auswahlverfahren der zehn Inszenierungen verändern? In Hinsicht auf Arbeiten von Regisseurinnen ist der Vorschlag einer 50%-Quote von Yvonne Büdenhölzer interessant und bringt das Theatertreffen sicherlich etwas weiter. In den nächsten Jahren könnte man aber vielleicht noch einen anderen Weg ausprobieren: die Jury wählt die Longlist-Inszenierungen (mit klaren Begründungen) aus, die letzten 10 daraus werden von 10 verschiedenen Gremien gewählt, je eine von beispielsweise Theaterkritiker*innen, Schauspieler*innen, People of Color, Frauen, Männern, Senior*innen, Theaterleiter*innen, LGBTI-Community, usw. Noch ein anderes Modell zum Ausprobieren wäre in Polen zu finden: zum Warschauer Theatertreffen werden nicht nur Produktionen der großen Häuser eingeladen, da auf die Provinz zu hören, kann sehr bereichernd sein. Sicherlich findet man weitere anregende Ansätze nicht nur in Europa.
Aber zurück zum Hauptprogramm, dem Herzstück für das Ausland. Das Theatertreffen läuft und vielleicht werden noch Inszenierungen kommen, die Eindrücke in diesem Kommentar revidieren lassen. Das Interesse für die Welt und das sozialpolitische Denken gehören zu den Stärken Deutschlands. Festzustellen, dass sie dem heutigen Theater zugunsten der hochartifiziellen Formen abhandengekommen sind, wäre unangenehm.
Erschienen auf: nachtkritik.de