Deutschen Verlagen wärmstens empfohlen:
„Bitte schön“ der polnischen Autorin Anda Rottenberg
Als 2009 das Buch von Anda Rottenberg „Proszę bardzo“ („Bitte schön“) erschien, schlug es auf dem polnischen Lesemarkt große Wellen. Die Autorin ist in Polen bekannt, allerdings nicht als Schriftstellerin, sondern als Kunstkritikerin und Autorin von Fachbüchern über Kunst. Noch bekannter ist sie als langjährige Leiterin der Nationalgalerie für moderne Kunst Zachęta in Warschau, sowie als Kuratorin zahlreicher Kunstausstellungen in mehreren europäischen Ländern, z.B. der Biennale in Venedig, und außerhalb Europas - der Biennale in Sao Paulo, Ausstellungen in den USA, Russland und Korea, um nur einige Länder zu nennen. Zurzeit bereitet A. Rottenberg eine Ausstellung über 1000 Jahre deutsch-polnische Nachbarschaft vor, dargestellt anhand von Kunstwerken beider Länder. Sie wird ab Herbst 2011 im Martin-Gropius-Bau in Berlin und später in Warschau gezeigt werden.
Die Kritik der Fachwelt und die Stimmen der Leser über das literarische Debüt der Kunsthistorikerin waren sich einig. Man redete von einem ausgezeichneten und sehr provokativen Buch, das sich über die im polnischen Establishment geltenden Umgangsregeln hinwegsetzt, davon, dass es auf dem polnischen Literaturmarkt seit Langem kein ähnlich ehrliches und bewegendes Buch gab. Man sprach über einen Erstling, der reif und konsequent wie selten sei, über den Mut der Autorin zur Wahrheit und darüber, dass es ein Buch sei, das einen nicht loslasse.
„Prosze bardzo“ wurde 2010 für das Finale des wichtigsten literarischen Preises Polens, der „Nike“, ausgewählt. Von einer der bekanntesten polnischen Zeitungen „Gazeta Wyborcza“ wurde es folgendermaßen vorgestellt:
„Das Buch von A. Rottenberg – in ihrer Jugend eine gierige Leserin von Tolstoi und Flaubert – ist vor allem eine Geschichte, die die Lüge der Literatur und ihrer effektvollen Storys enthüllt. Sie prangert auch die Lüge der Kultur an, die uns zuflüstert, wer wir aufgrund des Geschlechts, Religion, Nationalität und Staatszugehörigkeit sein sollen und wie wir uns zu benehmen haben. Es ist eine Geschichte über das Akzeptieren der Form- und Zusammenhanglosigkeit des Lebens und über das Recht aufs Scheitern, das ein unverzichtbares Teil des Lebens ist. Für ihr Erzählen findet die Autorin eine unspektakuläre aber klare Form – indem sie sich meanderförmig zwischen den Polen der Familienvorgeschichte, der Autobiografie und der unbegreifbaren Gegenwart bewegt.“
Das Buch hat viele Themen, von denen jedes für ein komplettes Buch ausgereicht hätte. Eines davon ist die Geschichte der Familie der Mutter, einer Russin, die dem vermögenden russisch - orthodoxen Bürgertum entstammte. Ihre Nächsten und sie selbst waren durch viele Ereignisse der russischen Geschichte des 20. Jahrhunderts schwer betroffen. Revolution, große Hungersnot und stalinistische Säuberungen sind nur einige davon. Die Mutter hat die Belagerung von Leningrad überlebt, später auch einige Jahre eines sibirischen Erziehungslagers. Zur selben Zeit war ihr jüngerer Bruder erst Komsomol dann Offizier der russischen Armee. Bis zum Ende seines Lebens war er der kommunistischen Idee ergeben. Einen zweiten Teil der Familie bilden die Verwandten des Vaters, der aus einer orthodoxen Familie polnischer Juden stammte. Die Wurzeln der Rottenbergs lagen im deutschen aschkenasischen Judentum (der Name kommt vermutlich von Rottenburg am Neckar oder Rothenburg ob der Tauber). Noch Jahrzehnte später pflegte man in der polnischen Vorgebirgslandschaft die alten strengen religiösen Sitten. Der Vater selbst ließ diese Tradition hinter sich, verstand sich als Pole jüdischer Herkunft und Bauernjunge aus der Gegend von Nowy Sacz. Da es ihm gelang, vor den Russen zu verheimlichen, dass er polnischer Soldat war, kam er als Zivilist „nur“ in sibirische Lagergefangenschaft, die ihn vor dem Holocaust rettete. Kaum jemand von seiner großen Familie überlebte.
Die Eltern A. Rottenbergs lernten sich in einem Lager kennen, Anda kam in Sibirien auf die Welt, einige Jahre später ging es in das Heimatland des Vaters. Das Kind ist zweisprachig in Legnica (bis 1945 Liegnitz) aufgewachsen, in den von den Deutschen an Polen verlorenen polnischen West-Gebieten. Familien mit gemischten Nationalidentitäten und mehreren Muttersprachen waren dort nach dem Krieg keine Seltenheit. Dennoch war es für solche Kinder schwer, da sie von den Normen – die natürlich ausschließlich polnisch waren - abwichen. Die Probleme aber auch die Vorteile, die eine solche Ausgangssituation mit sich brachte und die man in Deutschland erst jetzt, 60 Jahre später, in der immer multinationaler werdenden Gesellschaft kennenlernt, wurden in diesem Teil Polens schon viel früher durchlebt. A. Rottenberg hat hinsichtlich dieser Thematik einen großen und vielfältigen Erfahrungsschatz aufzuweisen. Sie erzählt überzeugend von der bewussten, selbstständigen Ausbildung einer polnischen Identität, die in ihrem Fall „nicht auf der Herkunft beruht“, und stellt sich gleichzeitig auf die Seite der Schwächsten, die nicht immer genug Kraft aufbringen können, die Ablehnung ihrer Integrationsversuche durchzustehen. Auch diese in einem Interview von der Autorin selbst geäußerte Intention des Buches wird sichtbar: „Es ist vielleicht ein Versuch, Rechte für Menschen zu erkämpfen, die – genauso wie ich selbst – eine undefinierbare, mosaikartige Identität besitzen“.
Sehr interessant sind auch die Beschreibungen des Lebens in Legnica, nach 1945 eine Stadt mit der größten russischen Garnison in Osteuropa, die ein Drittel der Stadtfläche in Anspruch nahm. Über das damalige Zusammenleben – was häufiger ein streng geregeltes Parallelleben in derselben Stadt war - weiß man sicherlich kaum etwas in Deutschland. Offen gestanden, man weiß darüber nicht einmal besonders viel in Polen.
Ein weiteres interessantes Thema ist der Umgang mit jüdischer Kultur in Polen. Dem deutschen Leser sei in dieser Hinsicht versichert, dass er viel Erstaunliches erfahren kann (besonders der Vergleich mit dem aus Deutschland Bekannten schafft hier ein unerwartetes Spannungsfeld) und dass viele von der Autorin notierte Beobachtungen und Erlebnisse neu und auch für Polen überraschend sind.
Aber auch Leser, die sich weder für die Integrationsthematik, noch für das Judentum oder die Familienforschung besonders interessieren, den aber soziale Probleme und der gesellschaftliche Umgang mit tragischen und gleichzeitig peinlichen – da für Prominente oder angesehene Personen „rufschädigenden“ – Ereignissen am Herzen liegen oder Leser, die gern authentische Kriminalgeschichten mit viel Spannung lesen, werden bei der Lektüre von „Prosze bardzo“ nicht selten gefesselt und überrascht sein. A. Rottenbergs Buch ist auch die Geschichte einer prominenten Frau, deren Sohn drogenabhängig wird und daran zugrunde geht. Bevor er jedoch selbst sein Leben gänzlich zerstören kann, wird er offensichtlich ermordet, was von der Polizei ein Jahrzehnt lang nur widerwillig und schlampig untersucht wird. Was genau und warum geschieht, wird im Laufe der Ereignisse ans Licht geholt. Es fehlt hier nicht an Erkenntnissen, die provokativ wirken mögen, den Leser dadurch jedoch dazu bewegen, manche eigenen Denk- und Handlungsmuster zu überdenken. Als Betroffene, die so offen in der Öffentlichkeit über die tragische Lebensgeschichte ihres Sohnes schreibt, bricht die Autorin ein Tabu, das nicht nur in Polen als ein solches gilt. Notwendige Impulse für einen veränderten Umgang mit einem der brennendsten Probleme einer hoch entwickelten Wohlstandsgesellschaft zu liefern, macht die autobiografische Geschichte Anda Rottenbergs zu mehr als einem dramatischen Einzelfall.
Man könnte vielleicht meinen, bei der Vielfalt der Themen, Reichtum an Einzelgeschichten, Anhäufung von Katastrophen, die die Geschichte des 20. Jahrhunderts vielen Einzelschicksalen bereitete, sei es unmöglich, ein Buch zu schreiben, das einem nicht „zuviel“ wird, bei dem man als Fremder, der mit dem Leben der Autorin nicht vertraut ist, den Durchblick verliert, das nicht ermüdend wirkt und nicht zu bewältigen ist. Überraschenderweise gelingt der Autorin dennoch eine reiche, klare, sehr bewegende Geschichte, die ganz verschiedene Typen von Lesern anspricht. Oft fängt man das Lesen wegen eines der Themen an, um zu entdecken, dass die anderen ebenso interessant oder sogar noch interessanter sind. So zeigen es die Erfahrungen der Leserschaft in Polen. In Deutschland müssten deutsche Verlage helfen, bevor man den Lesern direkt sagen kann: Bitte schön, überzeugen Sie sich selbst. Zurzeit kann sich dieser Satz nur an die Lektoren richten, da es ja noch keine deutsche Übersetzung dieses erstaunlichen Buches gibt. Man könnte hinzufügen: Sie werden es nicht bereuen.
Erschienen in MOE-Kultur Newsletter, Ausgabe 78