Noch schnell nachholen?
Stefan Chwins Roman "Der goldene Pelikan"
Ende des Jahres ist gewöhnlich eine Zeit der Bilanz. Sie eignet sich gut, um kurz innezuhalten, zu vergleichen und zu reflektieren. Lasst uns also allgemein der Frage nachzugehen, wie die Lage der polnischen Literatur auf dem deutschen Markt Ende 2005 ist und ob der EU-Beitritt Polens die jetzige Situation beeinflusst hat. Die Antwort ist: auf jeden Fall. Die allgemeine Tendenz ist deutlich sichtbar: es gibt sie, viele neue polnische Bücher auf dem deutschen Markt, sie werden immer zahlreicher, präsenter. Sie werden langsam zur Normalität und erscheinen auch „normal“, d.h. nicht nur aus besonderen Anlässen (Polen-Jahr, Polen als thematischer Schwerpunkt, im Rahmen der „Polnischen Bibliothek). Sie werden mehr oder weniger oder manchmal auch fast gar nicht wahrgenommen und auch das gehört zur Normalität.
Welche Bücher sind 2005 in Deutschland erschienen? Einerseits sind es Neuerscheinungen, die auch in Polen viel Aufmerksamkeit bekommen haben. (Als Beispiele dienen hier: P. Huelle „Castorp“, J. Chmielewska „Mordsstimmung“ oder A. Stasiuk „Unterwegs nach Babadag“). Andererseits sorgt man durch Übersetzungen älterer Titeln dafür, dass das Bild der polnischen Literatur für deutsche Leser immer facettenreicher wird. (Dazu gehören beispielsweise: W. Mysliwski „Der helle Horizont“, K. Grochola „Allererste Sahne“ oder „Himmelblaue Stunde“). Da, wo die Übersetzungen den polnischen Bestsellern etwas hinterher hinken, versucht man Schritt zu halten, indem man über die Autoren selbst und ihre noch nicht zugänglichen Bücher berichtet (wie im Fall von D. Maslowska). Und schließlich, und auch das ist eine neue Tendenz (auch wenn sie nicht nur ausschließlich auf das Jahr 2005 zu beziehen ist): deutsche Autoren der jüngeren Generation fangen an, Polen als ein attraktives Land für ihr Romangeschehen zu entdecken. Es sind jetzt Autoren, die keinen familiären Bezug zu der Region haben (wie es bei G. Grass oder S. Lenz der Fall ist) sondern die von Neugier und Phantasie geführt werden (z.B. M. Schwerdtfegers „Cafe Saratoga“, G.Wolfram „Samuels Reise“). Diese Vielfalt und Vielseitigkeit sind ein wunderbares Ergebnis.
Ein Jahresende ist immer ein guter Anlass, um nach hinten zu schauen und nachzuprüfen, ob man etwas vergessen oder verpasst hat. Ob es etwas gibt, was noch nachzuholen wäre. Für die Leser, die gern nach Büchern greifen, die schwer einzuordnen sind, die einerseits begeistern, andererseits aber auch irritieren können, gibt es unter der Neuerscheinungen des Jahres 2005 auch unter den polnischen Büchern etwas zu entdecken. „Der goldene Pelikan“ von Stefan Chwin wurde im Zusammenhang mit der letzten Frankfurter Buchmesse vorgestellt, hat es aber es nicht geschafft, unter die „ganz großen“ Neuerscheinungen zu gelangen. Die Berichte waren wohlwollend, das Buch bekam Aufmerksamkeit, was in Frankfurt ja schon ein Erfolg ist, aber mit schärferer Kritik oder entschiedener Empfehlung, hielt man sich zurück. Wer das Buch gelesen hat, kann solche Reaktion nachvollziehen. Für Leser jedoch, die gern keine geraden Wege gehen, ist das Buch bestimmt eine gute Empfehlung.
Die Geschichte spielt in Gdansk, in der Zukunft. Man schreibt das Jahr 2010 oder 2020 oder vielleicht 2050. Das Land Polen ist inzwischen in der Welt der westlichen Werte, der Globalisierung und des höheren Wohlstandes (gemessen an der heutigen Lage) angekommen. Jakub, Professor für Philosophie an der Juristischen Fakultät der A. Schopenhauer-Universität, gehört zu den Gewinnern im Leben. Er genießt berufliches Ansehen, sein Leben ist materiell gesichert und er besitzt eine kultivierte Ehefrau. Jakub hat sein Leben fest im Griff und er kann sich kein anderes vorstellen. Warum sollte er auch? Alles läuft gut und Jahr für Jahr wird er darin bestätigt. Sein Talent, sein Wissen, die Fähigkeit das Richtige zu tun und richtig zu entscheiden, machen sein Leben zu einer angenehmen Angelegenheit. Eines Tages passiert aber ein kleines Missgeschick. Nichts wirklich dramatisches, aber dennoch etwas unangenehmes. Bei der Aufnahmeprüfung trägt Jakub die Noten der Kandidaten in eine Liste ein. Es ist ein heißer Juli-Tag. Wegen der Hitze kommt Jakub kurz durcheinander, korrigiert aber gleich seine Fehler. Am nächsten Tag behauptet eine der geprüften jungen Frauen, er habe sich geirrt, die Note, die neben ihrem Namen steht, könne nicht stimmen. Jakub hält an der Note fest, er setzt sich durch. Allerdings kann er sich leider an die junge Frau und die genaue Prüfungssituation kaum erinnern. Und mit der Zeit kommen bei ihm Zweifel auf. Vielleicht machte er doch einen Fehler? Es ist natürlich zu spät, an der Sache etwas zu ändern, aber als er Wochen später Gerüchte hört, dass eine in der Aufnahmeprüfung durchgefallene junge Frau sich das Leben genommen habe, verliert Jakub sein Gleichgewicht. Die Geschichte lässt ihn nicht mehr los, sein Leben gerät aus den Fugen und verändert sich allmählich völlig.
Chwins Geschichte ist spannend erzählt und regt an, nachzudenken, inwiefern man Herr seines eigenen Lebens ist. Was Unerwartetes kann einem im Leben passieren? Wie lange wird man das Leben führen, das man gerade führt? Wie könnte mein Leben sonst aussehen? Hier öffnen sich viele Perspektiven, aber der Roman bietet noch viel mehr. Der Autor versucht, das zukünftige Leben in Polen darzustellen. Seine Vorstellungen sind interessant und es ist auch spannend, sie mit der heutigen Realität zu vergleichen. Auch wenn man seine Visionen nicht teilt oder sich sogar manchmal ärgert, wenn Chwins Beschreibungen oft an Ausdruckskraft verlieren, während er in seine Zukunftsvision Elemente einbringt, die schon heute einer archivierten Vergangenheit angehören, ist es trotzdem inspirierend, den Fragen nach seinen
Zukunftsvorstellungen nachzugehen. Wie entwickeln sich Polen, Europa und die Welt weiter? Wie wird es mit uns nächstes Jahr, in 20 Jahren oder in 50 Jahren weiter gehen?
Die Jahreswende ist die Zeit der Ausblicke und die Zeit der Vorsätze und Wünsche. Wenn man seine Wünsche auch an Autoren richten kann, könnte man sich wünschen, dass S. Chwin nach seinem interessanten Versuch, einen Roman über Zukunft zu schreiben, im nächsten Roman wieder seinem vertrauten Genre des historischen Romans nachgeht und uns den Lesern noch einen nächsten grandiosen Roman neben seinen zwei früheren („Tod in Danzig“ 1995 und „Die Gouvernante“ 1999) schenkt. Wenn man aber zur Jahreswende 2005/06 gleich zwei Wünsche an denselben Autor richten könnte, sollte S. Chwin einen neuen historischen Roman schreiben und nebenbei ruhig seine Experimente mit anderen literarischen Genres fortsetzen. Er sollte ein neues unberechenbares Buch schreiben, das fasziniert und irritiert, stellenweise ärgert und erstaunt. Von dem man Ende 2006 sagen würde: noch schnell nachholen!
Erschienen in MOE-Klutur-Newsletter, Ausgabe 26/27
Stefan Chwin: Der goldene Pelikan, Hanser Verlag, München 2005