Polens wahres Gesicht?
Polens Kultur- und Theaterszene steht vor einschneidenden Veränderungen
Anda Rottenberg
Vor einigen Wochen habe ich auf Bitte der „Süddeutschen Zeitung“ eine Prognose über vermutliche Veränderungen in der künftigen polnischen Kulturpolitik abgegeben. Der Artikel erschien am 3. November. Bereits am 15. November hat der neue Kulturminister Piotr Gliński ein Programm verkündet, das durch viel schärfere Maßnahmen gekennzeichnet ist, als ich es mir vorzustellen, überhaupt imstande war. Das Programm sieht ein Regieren mit harter Hand vor und kündigt Entschlossenheit beim Einführen von Prioritäten an, die nach eigenem Ermessen für einzig richtig befunden werden. Der Stil, mit dem der Minister sein Amt auszuüben beabsichtigt, war bereits am Beispiel seiner Bemühungen zu erkennen, mit denen er versuchte, die Premiere des Stückes „Der Tod und das Mädchen“ nach Elfriede Jelinek im Teatr Polski in Wrocław (Breslau) zu verhindern, sowie an dem Interview, das er dazu einer Journalistin des polnischen Fernsehens TVP Info gab.
Die Premiere fand statt, aber der Zugang zum Theater wurde durch eine „spontane“ Aktion der Gruppierung Krucjata Różańcowa za Ojczyznę (Rosenkranz-Kreuzzügler für das Vaterland) blockiert, die sich gegen Pornografie auf der Bühne richten sollte. Dieses Ereignis geschah gleichzeitig mit einer Demonstration gegen muslimische Flüchtlinge, in deren Verlauf ein Freund eines der neuen Parlamentarier öffentlich eine Juden-Puppe verbrannte. Ab dem 1. Januar 2016 wird Wrocław Kulturhauptstadt Europas sein. Es ist zu befürchten, dass die Welle solcher Auftritte von Organisationen des Nationalradikalen Lagers (ONR), die in letzter Zeit ähnlich der Dresdener PEGIDA immer öfter im öffentlichen Leben vorkamen und die die jetzige Regierung hervorgebracht haben, immer stärker wird. Die Welt bekäme das „wahre Antlitz“ Polens zu sehen.
Mit seinem Versuch, die Inszenierung zu zensieren und der Journalistin während der Sendung zu drohen, handelte der Minister voreilig und stieß auf Widerstand. Er hätte zuerst ins Parlament ein neues Gesetz über die Wiedereinführung der Vorzensur einbringen sollen, das bei der jetzigen Zusammensetzung bei der ersten Abstimmung angenommen worden wäre. Nun sind ihm die Hände gebunden. Um seine patriotisch-christliche Kulturpolitik umzusetzen, wird er gezwungen sein, mühsam die Leiter von Museen, Theatern und Galerien auszutauschen. Zur Zeit wird über die zukünftige Leitung des Königsschlosses in Warschau entschieden – die bisherige Kandidatin für diesen Posten, die Professorin für Kunstgeschichte und Ex-Kulturministerin Małgorzata Omilanowska wird wohl dem durch den neuen Minister bevorzugten Gegenkandidaten unterliegen. Im Königsschloss finden oft offizielle Staatsveranstaltungen statt und der Minister wird bei ihnen die Anwesenheit seiner Vorgängerin schon deshalb schwer ertragen können, weil sie größer und redegewandter ist als er. Inzwischen sind auch entrüstete Stimmen zu vernehmen, die die Inszenierung der Oper „Das Gespensterschloss“ von Stanisław Moniuszko am Warschauer Nationaltheater Teatr Wielki für „zu kontrovers“ halten, was darauf hindeuten könnte, dass man den Generalintendanten des Theaters Waldemar Dąbrowski loswerden möchte (nicht weil er sich eines internationalen Rufs erfreut, sondern weil auch er ein Ex-Kulturminister und ebenfalls sehr groß ist). Das Schicksal von Jan Klata als Intendant des Teatr Stary in Krakau ist ebenfalls unsicher, auch ist zu befürchten, dass wegen „ihrer kulturellen Fremdheit“ keine weiteren Aufführungen der neuen Oper von Paweł Mykietyn „Zauberberg“ nach Thomas Mann zu sehen sein werden und wahrscheinlich werden auch Inszenierungen wie „Angels in Amerika“ oder „Die Franzosen“ von Krzysztof Warlikowski oder „Das Kalkwerk“, „Stadt der Träume“ und „Holzfällen“ von Krystian Lupa wegen „moralischen Bedenken“ nicht mehr gespielt werden. Von der Bühne des Teatr Rozmaitości in Warschau werden wohl alle „pornografischen“ Inszenierungen von Grzegorz Jarzyna und seinen Kollegen verschwinden und das Theater selbst wird, anders als vereinbart, kein neues Theatergebäude bekommen. Ähnliches wird wahrscheinlich auch auf das Teatr Nowy und das Muzeum Sztuki Nowoczesnej (Museum für Moderne Kunst) zukommen, da das Muzeum Historii Polski (Museum für Polnische Geschichte) bevorzugt behandelt werden soll.
Das Teatr Nowy von Krzysztof Warlikowski und das Teatr Rozmaitości geleitet von Grzegorz Jarzyna sind Stadttheater, deshalb kann der Minister diese Intendanten nicht absetzen, aber er kann ihnen Zuschüsse verweigern. Diese beiden bekannten Regisseure könnten ihre Werke auch im Ausland inszenieren. Krystian Lupa gestand vor Kurzem, dass er keine Lust habe, länger in Polen zu wohnen, geschweige denn, dort zu inszenieren. Um ihn wird man sich keine Sorgen machen müssen, auch um viele andere namhafte Künstler nicht. Aber zahlreiche Regisseure, Schauspieler, Schriftsteller und andere Kulturschaffende, die für ihr Land etwas Gutes leisten wollen, werden jetzt wohl zum Schweigen gebracht oder gezwungen, wieder im „alternativen Umlauf“ tätig zu sein. Während des Kriegszustands in den 1980er Jahren waren Kirchen Asylorte für die freie Kunst. Heute wird man wahrscheinlich mehr mit der Hilfe von Privatunternehmern rechnen können, falls sie genug Mut dazu aufbringen werden.
Das alles wird nicht sofort passieren. Die Priorität liegt bei dieser Regierung in der Veränderung der Verfassung, um das „ungarische Modell“ einzuführen. Nächst wichtig ist für sie die Übernahme der öffentlichen Medien, die aus Handelsunternehmen in nationale Kulturzentren umgewandelt und durch eine einzige Person nach eigenem Ermessen geführt werden sollen. Die Polen sollen dadurch auf weitere Veränderungen vorbereitet werden. Die Kulturabteilung des Staatlichen Fernsehsenders befürchtet, dass sie bald manche Sendungen nicht mehr ausstrahlen kann. Die Sendung eines mit mir vorbereiteten Gesprächs ist für den 6. Januar 2016 angesetzt. Dieser Termin könnte schon zu spät liegen.
Übersetzung: Iwona Uberman
Der Text erschien in etwas gekürzter Form in „Theater heute“ Nr. 1 / 2016