Degeneration

Krzysztof Warlikowski inszeniert den Roman von Marcel Proust und zeigt die Premiere bei der Ruhrtriennale 2015

In den Medien war die neueste Inszenierung von Krzysztof Warlikowski frühzeitig durch Informationen und Interviews mit seinen Autoren präsent. Schon lange vor der Premiere wusste man, dass sie auf dem Roman „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ von Marcel Proust basieren und eigentlich keine Dramatisierung dieses Werkes sein wird, sondern eine Inszenierung „über Europa und Europäer“ (wie es der Dramaturg Piotr Gruszczyński in PAP vom 28. September 2015 sagte) und eher „eine theatralische Reflexion über die Identität von heutigem Europa und deren Wurzeln“ (PAP vom 20. August) darstellt. Die ersten beiden Informationen waren leicht verständlich, die dritte weckte Neugier und Erwartungen.

Die entstandene Inszenierung, die nun den Titel „Die Franzosen“ trägt, erzählt eine Geschichte, die in Frankreich spielt, deutlich in die heutige Zeit verlegt wurde (Bühnenbild, Kostüme, Darstellung) und in der Prousts Figuren agieren: es sind Franzosen mit Proustschen Lebensläufen, die Gespräche wie bei Proust führen. Diejenigen Zuschauer, die das Werk des französischen Autors gelesen haben, werden schnell Fragmente der damaligen Lektüre wiedererkennen. Die anderen werden eine schlüssige Erzählung vorfinden, die ein lesbares Mosaik von Plots und Szenen ergibt, leicht zu verfolgen ist und eine Vorstellung darüber gibt, worüber - unter anderem - der Roman von Proust handelt. Man braucht also nicht unbedingt den Roman gelesen zu haben, um die Inszenierung zu verstehen. Darin besteht gutes Theater.

Die Handlung der dreiteiligen Dramatisierung, die mit einer spiritistischen Séance anfängt, ist reich an Ereignissen. Ihren Hauptteil bilden die Konversationen in den Salons der Guermantes und Verdurins. Die Gespräche wechseln sich mit Monologen ab, die die Salonunterhaltungen thematisch erweitern. Die Dramaturgie der Inszenierung beinhaltet auch Kammerszenen zwischen den durch Liebesbeziehungen verbundenen Figuren, die am häufigsten in den Schlafzimmern von Odette (Maja Ostaszewska) oder Albertine (Maria Łozińska) spielen, sowie Varietéauftritte - Theater im Theater -, während deren die Jüdin Rachel (Agata Buzek) und ein Tänzer mit schwarzer (am Ende des Theaterabends weißer) Maske (Claude Bardouil), der auch einen Diener bei den Guermantes spielt, vor den versammelten Gästen tanzen oder singen. Die Monologe werden nicht nur durch die Dauergäste der Salons wie den Erzähler (Bartosz Gelner), Robert de Saint-Loup (Maciej Stuhr) oder den Baron de Charlus (Jacek Poniedziałek) geführt, sondern auch durch den einzig als Gesprächsthema unter den Aristokraten vorkommenden Offizier Alfred Dreyfus (Zygmunt Malanowicz), der persönlich das über ihn gefällte Militärurteil vorträgt (in der Inszenierung von Warlikowski wird Dreyfus, anders als dies im Jahr 1906 geschah, nicht rehabilitiert.) Die Texte mancher Monologe (Dreyfus, de Saint-Loup) sowie die Varietéauftritte stammen nicht aus dem Roman selbst, sie sind Ergänzungen der Autoren der Dramatisierung (die diesmal dennoch viel stärker auf nur einem einzigen Haupttext basiert, als es bei den vorherigen Inszenierungen Warlikowskis der Fall war).

Auch das Bühnenbild ist reduziert: die Schauspieler bewegen sich in einem fast leeren Raum, auf der linken Seite steht ein Bett, weit hinten befindet sich die lange Theke einer Bar. Viele Szenen spielen sich in einem transparenten Glaskäfig ab, der auf Schienen auf die Bühne gefahren wird. Der Käfig stellt manchmal einen Salon dar, manchmal wird er zu einer kleinen Bühne für die Auftritte der Varietékünstler. Den Zuschauern gegenüber hängen große Leinwände, auf die entweder Breitwandfilme projiziert oder nebeneinander drei verschiedene Projektionen gleichzeitig gezeigt werden. Man sieht u.a. sich küssende hetero- und homosexuelle Paare, malerische Landschaften oder Großabbildungen der Natur, wie aufblühende Blumen, durch Insekten befruchtet werdende Pflanzen, Seepferdchen bei der Paarung und im dritten Teil des Abends in verkleinerter Perspektive Sterne und Planeten der Galaxien. Die Leinwand dient auch dazu, die Titel der von Proust übernommenen Kapitel zu zeigen, die in den Szenen der Inszenierung ihre Entsprechungen finden.

Der Roman „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ zeigt eingehend und in ihrer ganzen Widersprüchlichkeit die Welt der französischen Aristokratie und des Großbürgertums in ihrer Schlussphase in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg und während des Krieges. Diese Welt füllt den ganzen Horizont des Romanerzählers, der die oberen Gesellschaftskreise bewundernd und zustimmend, gleichzeitig aber auch kritisch und distanziert betrachtet. Die Welt der Reichen ist für den Proustschen Erzähler seine „ganze Welt“. Trotzdem ist es kaum möglich, im Roman dafür eine Bestätigung zu finden, dass auch der Autor seine Figuren mit der ganzen französischen Gesellschaft gleichsetzen würde. In der Inszenierung von Warlikowski ist dies anders. Schon die im Titel sichtbare Verallgemeinerung scheint anzudeuten, dass „Die Franzosen“ eine Erzählung über Alle sein soll. Aber die Personengruppe, die man auf der Bühne erlebt, entspricht bestenfalls der heutigen französischen Elite, die nur einen kleinen Teil der derzeitigen französischen Gesellschaft ausmacht. Es ist also ein irritierendes Bild, besonders, weil es durch einen Kenner Frankreichs, der Warlikowski zweifelslos ist, geschaffen wurde. Warum stellt der Regisseur die französische Gesellschaft auf diese Weise dar? Und wie sieht sie bei ihm auf der Bühne genau aus?

Die Mitglieder der Elite verbringen in Warlikowskis Inszenierung ihre Zeit in den Salons und ihre Gespräche betreffen größtenteils Juden. Außerhalb der Salons widmen sie ihre Aufmerksamkeit und ihre Zeit dem Sex. Auch in dem Roman von Proust werden diese beiden Themen in verschiedenen Schattierungen und stilistischen Formen angesprochen. Der Romancier schildert sie über Brutalität realistischer Beschreibungen, philosophische Reflexionen bis hin zu subtiler Lyrik, wodurch sie zur tiefen Studie über das Leben werden. In der Inszenierung von Warlikowski wirken sie demonstrativ ausgestellt, der Proustschen Atmosphäre beraubt, verlieren sie ihre Aussagekraft. Verflacht, gemacht wie um zu gefallen, erwecken sie den Eindruck einer Pseudoskandalisierung aus Berechnung. Es ist nicht mehr wie einst in „Gesäubert“ von Sarah Kane, als der Erfolg der Inszenierung keinesfalls sicher war, ein scharfes und risikobereites Tabubrechen im Namen der Ausgeschlossenen. Sind diese dummen, intriganten, mit dem Ausschluss von Juden beschäftigten (übrigens, warum nicht auch von Muslimen - die Aufführung will ja auch von der Gegenwart sprechen) und beim Offenlegen ihrer sexuellen Vorlieben so verlogenen Menschen, die in ihrer Einheitlichkeit nicht einmal ein glaubhaftes Bild einer gesellschaftlichen Elite abgeben, sollen sie wirklich die ganze Gesellschaft Frankreichs abbilden? Das ist ja ein Missverständnis. So eine Darstellung ignoriert die Mehrheit dieses Landes. Das Zeigen einiger Pariser Großdemonstrationen der letzten Jahre im Theaterprogramm kann daran nichts verändern, im Gegenteil - so wird alles noch komplizierter.

Welche Franzosen vertreten „Die Franzosen“? Das, was man auf der Bühne zu sehen bekommt, wird zu einer - wahrscheinlich unbeabsichtigten - großen Ausgrenzung. Das ist natürlich paradox, wenn man die künstlerische Vergangenheit des Regisseurs berücksichtigt. Wenn man jedoch seine früheren Inszenierungen (und dadurch auch seine persönlichen Ansichten über die Themen wie Homosexualität oder Antisemitismus) nicht kennt, findet man in „Die Franzosen“ keine Anhaltspunkte, die die Ansichten des Regisseurs zu diesen Themen klarstellen könnten. Das Missverständnis kann sogar dazu führen, dass die Anhänger intoleranter Ansichten sich in ihren Meinungen bestätigt fühlen könnten.

Es stellt sich auch die Frage, warum Warlikowski so krampfhaft an den Gestalten aus den Salons von Proust festhält, wenn er von ganz Europa sprechen möchte? Wo bleiben bei der Dreyfussaffäre beispielsweise die Bezüge zu der vor kurzem erlebten polnischen Zygmunt Baumann-Affäre (die sich natürlich in ihren Einzelheiten, Uneindeutigkeiten und widersprüchlichen Gefühle weckend von der Dreyfuss‘ Geschichte stark unterschied, gleichzeitig aber ein erschreckendes Beispiel des Antisemitismus bei manchen im heutigen Polen war - wäre das nicht ein großes Theaterthema?), wo bleiben die heutigen Stimmen von Viktor Orban oder Gert Wilders? Wo bleibt der Rest von Europa? Auf ihn kann doch unmöglich nur hingewiesen werden durch die Proustschen Figuren wie der Fürstin von Parma oder der Königin von Neapel oder zu Ende der Inszenierung durch schnelles Aufzählen der Namen europäischer Schriftsteller oder Städte. Immerhin gilt Warlikowski als Meister passender Anspielungen, Einschübe, Zitate und Assoziationen. In dieser Inszenierung - die sich ja primär auf die Zeit um den Ersten Weltkrieg herum und die Gegenwart, sowie vor allem auf Frankreich bezieht - fand er schließlich Platz genug, um durch Paul Celans „Todesfuge“ an die Naziverbrechen aus dem Zweiten Weltkrieg zu erinnern. Passt die Erinnerung an Holocaust wirklich immer zu allem?

Der Regisseur beabsichtigte wahrscheinlich, das Europäische zwischen den Zeilen einzuführen. Dies ließe sich aus seinen Äußerungen im Programmheft folgern. Das Französische bedeutet für ihn das, „was wir im Allgemeinen bewundern“, aber das wir auch „als etwas Degeneriertes“ ansehen. Verwunderlich ist, dass ein so bedeutender Regisseur die Franzosen auf eine so klischeehafte, banale und ungerechte Weise sieht. So kann man gegenseitige Vorurteile in Europa nicht abbauen - und ist gerade dies nicht die Aufgabe eines guten Theaters? Im Übrigen ist dies nicht die einzige ungeschickte Aussage des Regisseurs. In einem Interview vor der Premiere stellte man die Frage, warum Warlikowski sich für das Werk von Proust interessiere. „Warlikowski arbeitet immer auf den Schnittstellen der Biografie eines Autors und seines Werkes“, erklärte hierzu Piotr Gruszczyński. Proust sei „ein Homosexueller und Halbjude, das heißt, nach der Einordnung von Hitler würde man ihn sofort ins Gas schicken“ ergänzte Warlikowski in einem Gespräch mit dem Kritiker Jacek Cieślak. Als ob seit den Nazizeiten im deutschen Bewusstsein nichts Neues geschehen sei, worüber es sich heute mehr lohnen würde zu reden. Das Stereotyp „Deutsche sind Nazis“ lebt in Polen seit Jahren (übrigens in denselben Kreisen, die auch meinen, „Franzosen sind degeneriert“) und ein weiteres Festhalten an ihm führt dazu, dass auf polnischen Internetseiten zuletzt zahlreiche schockierende Einträge zu finden waren wie „Flüchtlinge sollen ins Gas geschickt werden“. Wäre es nicht besser, statt die alten, populistischen Gedankenschemen weiter zu verbreiten, sich lieber der Toleranz zuzuwenden?

Ähnlich verhält es sich mit dem dünnen Programmheft der Inszenierung, das bei den Vorstellungen „Die Franzosen“ beim Festival Dialog Wrocław in der Garderobe kostenlos verteilt wurde. Es war ein nützliches Kompendium, um einen schnellen Überblick über die Figuren des Romans von Proust zu bekommen. Aber die Informationen fingen mit grafischen Zeichen an, die markierten, ob eine Person Jude oder Antisemit ist und was seine/ihre sexuellen Vorlieben sind. Diese Zeichen waren möglicherweise ironisch gedacht, in einem Land jedoch, wo man im Internet viele Listen findet, die einem „helfen, zu erfahren“, wer in Polen Jude ist (übrigens, viele von diesen Listen enthalten darüberhinaus zahlreiche Fehler), bedeutet solche Informationen bei den Romanfiguren einzuführen - dazu auch in Form von Davidsternen! –ein Einverständnis mit fortwährender Stigmatisierung. Hat das Nowy Teatr überhaupt darüber nachgedacht? Man sollte hier aber auch erwähnen, dass ein dickes (kostenpflichtiges) Programmheft zur Inszenierung sehr interessante Beiträge enthält.

Weitere Zweifel erweckt eine Szene, die zu Anfang des dritten Teils stattfindet. Der Schauspieler Maciej Stuhr (weiterhin in seiner Rolle als Robert de Saint-Loup?) spricht einen Monolog aus dem Text „Ultimatum“. Es wundert ein wenig, dass im Programmheft als Autor dieses Textes Fernando Pessoa genannt wird, da der Autor ihn unter dem Heteronym Alvaro de Campos veröffentlichen ließ (weitere Ausgaben, die schon unter dem Namen von Pessoa erschienen, betiteln den Text „Ultimatum des Alvaro de Campos“), was darauf hinweisen würde, dass die dort enthaltenen Ansichten nicht unbedingt Haltung und Meinung des bekannten portugiesischen Schriftstellers widerspiegeln. Der 1917 geschriebene Monolog ist eine zornige Anklage, die die Nationen für ihre verbrecherischen Bestrebungen und die Regierenden für ihre aggressive Politik anprangert und die sich aus den Erfahrungen des Ersten Weltkrieges speiste. Der bei Warlikowski suggerierte Zusammenhang zwischen „Ultimatum“ und der Lage des heutigen Europa bleibt jedoch unklar und die im Monolog enthaltenen Formulierungen klingen vage. Klar und konkret ist dagegen die Bühnensituation, eine genaue Teilung von Bühne und Zuschauerraum (also das Publikum und den Schauspieler, der das Theater vertritt). Es ist gleichzeitig eine Teilung in Schuldige und diejenigen, die ein Recht haben, über sie zu urteilen. Solch ein autoritäres Theater, das Urteile fällt, sich selbst aber von Fehlern freispricht, ist heute wenig überzeugend. Engagierte Künstler schauen kritisch nicht nur auf die Anderen, sie verstehen sich auch selbst als Teil des Systems. Das heutige Theater sagt heute „wir“ nicht „ihr“, wie das im Monolog von Stuhr geschieht.

Noch eine Sache. Am Ende der Inszenierung treffen die Figuren aufeinander als alte Leute. Durch die Schauspieler ausgezeichnet dargestellte körperliche Unzulänglichkeiten gepaart mit entsprechenden Geständnissen über die Leiden und intime Probleme des Alterns wurden in einer Weise inszeniert, die das Alter lächerlich macht und bei einem Teil des Publikums für Gelächter sorgt. Es sollen hier keine konkreten Szenen beschrieben werden, um diese Bilder nicht zusätzlich zu verbreiten. Humor ist natürlich eine Geschmacksache, dennoch stellt sich hier die Frage: Wozu soll so ein Bild des Alters in dieser Inszenierung dienen?

Auf der anderen Seite: „Die Franzosen“ ist unter künstlerischen Aspekten eine hervorragende Inszenierung. Eine präzise konstruierte Narration, großartige Schauspielkunst, hypnotisierende Filmprojektionen, fantastische Musik, ein ästhetisch klares Bühnenbild, stimmungsvolle Beleuchtung - all das ergibt ein imponierendes Gesamtbild. Es ist ein großartiges Spektakel und seine optische Opulenz kann bezaubern. Es wundert nicht, dass das Publikum und ein Teil der Kritik, auch im Ausland, begeistert waren und nicht mit Komplimenten sparten. Ob dies aber wirklich reicht?

Text und Übersetzung Iwona Uberman

 

Der Text erschien auf Polnisch in "Teatr" 12/2015