Einladung zum Abenteuer Theater
Ein Interview mit Krystyna Meissner
Es war nicht leicht, am letzten Tag des Theaterfestivals „Dialog-Wrocław“ zwischen einer Podiumsdiskussion mit dem Soziologen und Philosophen Zygmunt Bauman, der Ethik-Professorin Magdalena Środa, der Politikerin Agnieszka Kozłowska-Rajewicz und dem Journalisten Jacek Żakowski über rechtsradikale Tendenzen in Polen („Über das braune Polen“) und der Aufführung des von ihr inszenierten Stückes „Hoppla, wie leben“ (MOE berichtete in seiner Ausgabe Nr.91) noch eine Lücke im Terminkalender von Krystyna Meissner für ein kurzes Interview zu finden. Iwona Uberman befragte die künstlerische Leiterin des Festivals über dessen Verlauf aus ihrer Sicht.
Iwona Uberman: Die siebte Ausgabe des Festivals „Dialog-Wrocław“ geht zu Ende, es ist also Zeit ein Resümee zu ziehen. Wie beurteilen Sie als künstlerische Leiterin des Festivals seinen diesjährigen Verlauf?
Krystyna Meissner: Ich habe meine eigene Sicht darauf, wie ein Festival, insbesondere dieses Festival, auszusehen hat. Es ist für mich keine Präsentation, um das Publikum zu verführen, sondern eher ein Angebot, ein Abenteuer zu erleben. Nicht nur theatralischer Art, sondern auch einer intellektuellen und emotionalen. Deshalb lade ich ein, sich Aufführungen anzuschauen, die mich beeindruckt haben, und die, wie mir scheint, bei unserer heutigen Betrachtung der Welt wichtig sind. Ich habe deswegen mit Spannung auf die Reaktion des Publikums gewartet und ich muss sagen, dass ich über die positiven Reaktionen überrascht bin. Natürlich nicht von allen, das ist immer so. Aber ich freue mich, dass es mir gelang, gerade diese Inszenierungen zu finden und dem Festivalpublikum zu zeigen, und ich denke, dass ein solches Festival seine Berechtigung hat. Es ist die Art, neue Horizonte zu eröffnen und nach einer neuen Verständigung zwischen den Zuschauern und dem Theater zu suchen. So wird das Theater in gewisser Weise ein Werkzeug zum Verständnis der uns umgebenden Welt.
Iwona Uberman: Sind diese Tage so verlaufen wie geplant oder gab es für Sie die eine oder andere Überraschung – eine positive oder negative?
Krystyna Meissner: Überrascht hat mich die Reaktion auf die Performance „Exhibit B“. Kann man sie überhaupt als Theater bezeichnen? Meiner Meinung nach ja, ich nenne sie so, aber ihre Form ist näher einer Exposition, einer Ausstellung, als einem Theater. Was jedoch die Gestaltung dieses Werks von Brett Bailey aus Südafrika angeht – sie war phänomenal und hat alle erschüttert. Wir hatten keine Ahnung, wie die Kolonialisierung Afrikas verlaufen war. Ich habe nicht erwartet, dass diese Inszenierung von allen so stark rezipiert wird. Das ist nicht die erste Aufführung von Bailey über die Eroberung Afrikas durch verschiedene europäische Länder: Deutschland, Belgien und andere Länder unseres Kontinents. Der Regisseur machte zuerst „Exhibit A“ und dann „Exhibit B“.
Iwona Uberman: Die Letztere ist in Deutschland gut bekannt, man zeigte sie vor einem Jahr in Berlin…
Krystyna Meissner: Und wurde sie dort mit Ruhe angeschaut?
Iwona Uberman: Nein, Brett Bailey hat mit dieser Inszenierung eine große Debatte über Deutschlands koloniale Vergangenheit angestoßen.
Krystyna Meissner: In Belgien dagegen gab es Proteste, und wie man erzählt, wollte man dort diese Inszenierung gar nicht sehen. Polen hat glücklicherweise mit der Kolonisierung Afrikas nichts zu tun, die Polen sind daher erschüttert, dass sie so verlief, dass die Kolonisierung so ausgesehen hatte. Wir wussten nichts davon. Es ist bedauernswert. Es ist bedauernswert, aber man muss unbedingt darüber reden.
Iwona Uberman: In diesem Jahr waren Begleitveranstaltungen ein wichtiger Schwerpunkt des Festivals. Es waren keine typischen Treffen mit Künstlern, sondern eher thematische Gespräche. Ist dies ein neues Format?
Krystyna Meissner: Es ist kein neues Format für uns, aber erst bei dieser Festivalausgabe hat es sich so klar entwickelt. Wir luden wichtige Intellektuelle ein, Professoren wie Philip Zimbardo und Zygmunt Bauman. Was Letzteren angeht, hat sich vor kurzem Wrocław ihm gegenüber nicht schön verhalten. Ich bin hier nicht befugt, zu bewerten oder sogar Urteile zu fällen darüber, wie sich Herr Bauman in seiner Jugend verhielt, bin aber der Meinung, dass wir ihn aufgrund seines fantastischen wissenschaftlichen Schaffens als Philosoph und Soziologe angemessen empfangen sollten. Wir sollten nachsichtiger sein. Statt dessen, sogar auf der heutigen Debatte, gab es solche Proteststimmen, dass ich nahe dran war, einen das Wort Ergreifenden rauszuschmeißen, da er anfing Herrn Bauman wegen seine Vergangenheit zu beschuldigen. Ich sagte „Dialog ja, Anklagen nein“. Wir werden in Zukunft diese zweite, parallel zu den Aufführungen verlaufende, intellektuelle Spur des Festivals weiterentwickeln. Dem diesjährigen Festival habe ich einen provozierenden Titel gegeben: „Gewalt ordnet die Welt“ und es freut mich, dass er auf solche Ablehnung traf. Sehr schön hat sich dazu Herr Zimbardo aus den USA geäußert, der benannte, was Heroismus heute ausmacht. Er bedeutet nicht mehr, sein Leben zu opfern für etwas, was wert ist, es auf solche Weise zu verteidigen, sondern die Möglichkeit „Nein“ zu sagen, wenn man mit etwas, was neben einem passiert, nicht einverstanden ist. Es kann eine Kleinigkeit sein, wie zum Beispiel einen antijüdischen Witz zu erzählen, und ich sage: „Nein, ich bitte Sie, so etwas bei mir nicht zu erzählen, weil ich damit nicht einverstanden bin“. Es scheint mir, dass wir alle mehr Gefühl entwickeln müssen für ein solches „Nein“ in Kleinigkeiten und so eine gemeinsame Front für ein harmonisches Miteinander in Europa und in der Welt erschaffen.
Iwona Uberman: Ein guter Platz hierfür sind Diskussionen, an denen das Publikum aktiv teilnehmen kann…
Krystyna Meissner: Ja, man hat es an der heutigen Diskussion gemerkt. Sie war zu kurz, da Professor Bauman nur begrenzt Zeit hatte, sie hätte viel länger dauern können. Ich bedauere, dass sie nicht länger war, weil ja unterschiedliche Stimmen erschienen, was bedeutet, dass die Leute diskutieren wollten. Über grundsätzliche Themen, nicht über das, was Medien und aktuelle Politik ihnen diktieren, sondern tiefer, über das, was sie verbindet. Meiner Meinung nach - man hat das Thema der EU gar nicht angesprochen - leben wir so dahin neben Deutschland und den anderen Ländern, und mir scheint, dass wir die Räume der Unterschiede zwischen uns gar nicht erforschen und begradigen, und es wäre gut, dies zu tun.
Iwona Uberman: Bedeutet dies, dass es eine Richtung ist, die Sie beim nächsten Festival anstreben werden?
Krystyna Meissner: Ja, auf jeden Fall.
Iwona Uberman: Wird diese nächste Ausgabe auch mit dem Ereignis „Wrocław – Kulturstadt Europas 2016“ zusammenhängen?
Krystyna Meissner: Ja, da mich Kulturminister Zdrojewski, der selbst aus Wrocław kommt, darum bat. Ich muss mir etwas einfallen lassen, mein Festival wird schon 2015 stattfinden. Ich weiß es noch nicht genau. Ich mache weder Programmangaben im Voraus, noch lege ich den Titel fest. Ich weiß ja nicht, was Europa in zwei Jahren umtreiben wird. Ich fange jetzt an, auf Europa aufmerksam zu schauen und neu entstehende Inszenierungen zu betrachten, um zu sehen, was Regisseure interessiert, worüber sie sprechen wollen. Aber erst in zwei Jahren will ich feststellen, wo es ihnen wehtut, und erst dann werde ich einen Titel formulieren. Deshalb möchte ich heute nicht ankündigen, was in kommender Zeit aktuell sein wird und wie genau „Dialog - Wrocław“ am Kulturereignis „Wrocław- Kulturhauptstadt Europas 2016“ teilnehmen wird.
Iwona Uberman: Die letzte Inszenierung des Festivals ist in Ihrer Regie im Teatr Współczesny in Wrocław entstanden…
Krystyna Meissner: …als Abschied.
Iwona Uberman: Sie weicht vom Titel des Festivals ab.
Krystyna Meissner: Ich wollte diese Inszenierung anhand des Romans von Garcia Marquez „Die Liebe in Zeiten der Cholera“ machen, aber der Autor oder seine Agentur stimmten nicht zu. Was das Thema Alt-Sein angeht, es fing an, mich zu beschäftigen. Vor allen, wie sich Leute gegenüber den Alten verhalten. Sie benehmen sich schrecklich. Wahrscheinlich sieht es in jedem Land etwas anders aus, aber bei uns werden alte Menschen aus dem Alltagsleben vertrieben und man lässt sie spüren, dass sie unerwünscht sind. Das haben mir alle erzählt, alle alten Menschen, mit denen ich sprach. Für sie war am schmerzhaften das Gefühl, dass sie überflüssig sind. Ich habe Kontakt zu alten Schauspielern hier in der Umgebung aufgenommen und es war ein unglaubliches Abenteuer. Die Inszenierung ist im Laufe unserer Gespräche gewachsen. Es ging mir darum, dem Leben der Alten einen Wert zu verleihen. Ich glaube, dass das, was uns gelang zu erreichen, nicht besonders populär ist, denn populär wird nur das, was berüchtigt oder aufreißerisch ist. Ich spreche dagegen über die wichtigste Sache, die ein Mensch braucht, übrigens unabhängig vom Alter. Ich spreche von der Liebe und dem Recht auf Liebe, abgesehen davon, wie alt man ist. Liebe gibt dem menschlichen Leben Sinn. Nur soviel möchte ich sagen.
Erschienen in MOE-Kultur-Newsletter, Ausgabe 92