Heiler? Gibt es sie noch?
„Heiler“ von Oliver Bukowski am Deutschen Theater
Auch wenn man es wahrscheinlich ungern laut zugeben würde: wer ist da nicht neugierig, was in einem Psychotherapiekabinett passiert? Das Interesse steigt, wenn man hört, dass es ein Kabinett eines Therapeuten ist, der als Koryphäe in seinem Fach gilt. Und wenn man dann zusätzlich erfährt, dass es bei diesem Professor etwas gab, das nach Skandal aussieht…
Oliver Bukowski weiß gut, wie man Spannung erzeugt. Sein neuestes Stück ist jedoch mehr als eine auf Sensation bedachte Ex-Patientin-Selbstmord-Story. Es führt nicht nur in die Welt der Seelenbehandlung ein und anschließend zu der Frage von psychischer Gesundheit, sondern es erzählt eine breitere Geschichte über die Spezies Mensch. Eine Geschichte, die gleichzeitig eine wunderbare und eine schreckliche Botschaft vermittelt: kein Mensch kann immer sein eigener Herr sein, eines Tages kann es dem Stärksten passieren, dass ihm ohne seinen Willen die Kontrolle über Leben und Verhalten entgleitet und er könnte einer Katastrophe in die Arme rennen. Das ist aber noch nicht alles: er könnte auf sein großes Scheitern dabei sogar stolz sein. Sein inneres Ich ist überzeugt, dass er durch sein bestimmtes, durch die Situation begründetes Handeln gegen die geltenden Konventionen seine Condition Humaine zeigte. Denn auf die Frage „wie handle ich richtig“, gibt es im Leben nicht immer eine allgemein gültige und einzig richtige Antwort.
Es ist sehr schön, wie Bukowski das subtile Gewebe aus Spiel mit Fragen nach moralischen Normen, dem Sinn vieler Regeln in unserer heutigen Gesellschaft und Verhaltenskonflikten, in die jeder verstrickt ist, behutsam spinnt. Er wirft Fragen auf, die aufs Neue überlegt werden können, ohne sie dem Publikum aufzuzwingen. Wer über einen verfestigten Blick auf die Welt verfügt, wird möglicherweise nicht über sie stolpern. Wer jedoch bereit ist, Zweifel zuzulassen oder die Richtigkeit eigener Meinungen zu überprüfen, wird sich bestätigt fühlen, weiterhin diesen Kurs und nicht den eines „Hardliners“ zu fahren.
Es ist ebenfalls sehr schön, an diesem Abend zu erleben, wie gut mit wenig äußeren Mittel gelungenes Theater auskommen kann. Ein einziger, charismatischer Schauspieler (großartig Jörg Gudzuhn), ein steriler, weißer, bis auf einen Tisch, einen Stuhl, einen Sessel und einige Zeitungen großer, leerer Raum und eine spannende, mit Witz und Geistesblitzen aufwartende, vielschichtige Geschichte, in der sich über die Einzelschicksale hinaus viel Gesellschaftliches widerspiegelt, genügen.
Anders als der Titel „Heiler“ es vielleicht vermuten ließe, ist es keine Geschichte von gestern. Dass es jedoch heute für viele unter immer widrigeren Umständen lebenden und arbeitenden Menschen gilt, ein Heiler könne sie zwar heilen, aber er kann ihnen nicht zu einem glücklicheren Leben in dieser an sich kranken Welt verhelfen, ist nicht die einzige interessante Beobachtung des alten Psychiaters. Es lohnt sich, mit Herrn Professor Dr. Matthes Grebenhoeve eine Bekanntschaft zu schließen. Auch wenn es nur eine kurze Bekanntschaft auf den Brettern der Kammerspiele des Deutschen Theaters ist. Das schnelle Vergehen der Zeit ist das einzige, was man an diesem Abend bereuen könnte.
Erschienen in MOE-Kultur-Newsletter, Ausgabe 76