Klein aber Fein
„Meitner“ im Maxim Gorki Studio Berlin
Aufführung in Rahmen eines Symposiums der Humboldt Universität Berlin
Die Stationen ihres Lebens waren: Wien, Berlin, Stockholm. Die längste und glücklichste Zeit davon verlebte sie in Berlin. Hier konnte Lise Meitner ihre Wege als Wissenschaftlerin beschreiten; den Anfang machte sie noch zu Zeiten, als es Frauen verboten war, viele der Forschungseinrichtungen zu betreten. „Erinnerst du dich, Lise, als wir uns im Keller treffen mussten, nachdem du durch die Hintertür ins Gebäude kamst?“ Nein, hier ging es nicht um ein Liebestreffen. Lise Meitner und Otto Hahn mussten dringend ihre neuesten Laborergebnisse besprechen. Und dennoch bleibt die Geschichte äußerst spannend.
Robert Marc Friedman, dem norwegischen Wissenschaftler und Autor des Stückes mit dem schlichten Titel „Meitner“, gelingt eine große Kunst. Gegen alle Befürchtungen und Vorurteile erschafft er aus einem wissenschaftlichen Thema, aus Gesprächen von drei – trockenen? – Forschern, und ohne Zugabe von einem Liebesplot oder Mord oder Totschlag einen großartigen Theaterabend. Friedman fesselt auch Zuschauer, die mit wissenschaftlichen Feinheiten der Fachphysik nicht vertraut sind, und erzählt auf eine allgemein zugängliche Weise, was die gemeinsame Forschung von Hahn und Meitner ausmachte, wie ihre Zusammenarbeit verlief und warum es, milde gesagt, unfair war, 1946 für die Entdeckung der Kernspaltung des Urans Otto Hahn allein mit dem Nobelpreis für Chemie auszuzeichnen. Man erfährt auch vieles darüber, warum Lise Meitner, Physikforscherin der Weltklasse an ihre Forschungserfolge von Berlin in Schweden nicht mehr anknüpfen konnte, wohin sie sich 1938 vor den Nazis rettete. Auch in der Darstellung der Arbeitsverhältnisse am vom Physik-Nobelpreisträger Manne Siegbahn geleiteten Stockholmer Nobel-Institut beweist Friedman eine glückliche Hand.
Der Einakter betrifft eine vergangene Zeit und basiert auf historischen Fakten. Friedman stützt sich auf Briefe und die exzellente Biographie der Amerikanerin Ruth Lewin Sime über Lise Meitner. Der Autor nimmt sich gleichzeitig aber auch die künstlerische Freiheit, Lise Meitner in unserer Zeit noch mal zum Leben zu erwecken und sie mit der Idee zu konfrontieren, ein Theaterstück über sie zu schreiben. „Ein Theaterstück über mich?“ fragt die auf der Bühne sitzende Lise Meitner und schüttelt skeptisch mit dem Kopf. „Man wird sicherlich darüber erzählen, wie ich von den männlichen Kollegen unterdrückt wurde und was für ein Opfer ich war. Dieser moderne feministische Blick…“
Das Stück macht aus Meitner kein Opfer, auch wenn es die Wahrheit erzählt: die Physikprofessorin wurde für ihre Entdeckungen zu Lebzeiten nie ihrer Leistung entsprechend richtig gewürdigt, die „Versprecher“ der sie gut kennenden Kollegen, sie wäre „Assistentin“ von Otto Hahn, waren ebenfalls nicht selten. Nach dem Atombombenabwurf auf Hiroshima durfte die Wissenschaftlerin jedoch die Schuldzuweisungen über die katastrophale Anwendung der plötzlich nur ihr – und nicht Otto Hahn, Niels Bohr oder den bei der Konstruktion der Atombombe beteiligten männlichen Kollegen - zugeschriebenen Entdeckung, allein schultern. Erst jetzt wurde Lise Meitner in der Öffentlichkeit bekannt. Als „Mutter der Atombombe“.
Auch diese nicht vom Himmel gefallene Ironie der Geschichtsschreibung bringt Friedmans Stück ans Licht. Es kommt dabei ohne feministische Deutungsmethoden aus. Die Ängste der Meitner in „Meitner“ bleiben unbegründet. Es ist anzunehmen, das Stück hätte Lise Meitner gefallen.
Es ist ein Theaterabend, der mit einfachen Ausstattungsmitteln und ohne sonstigen Aufwand wunderbar auskommt. Er konzentriert sich auf die drei Darsteller, ist reich an Inhalten und Erkenntnissen und im guten traditionellen Sinne amüsant. Im Studio des Berliner Maxim Gorki Theaters war diese Aufführung des schwedischen Göteborgs Stadsteater nur „außer der Programmreihe“ zu sehen, aber es wäre sicherlich schön, wenn „Meitner“ in die regulären Theaterspielpläne nach Deutschland zurückkehren würde. Schon jetzt lässt sich voraussagen: der Abend würde sich lohnen.
Erschienen in MOE-Kultur-Newsletter, Ausgabe 73