„Warten auf den Türken“
Ein würdiger Abschluss einer „polnischen“ Spielzeit im Maxim-Gorki Theater Berlin
Es geschieht nicht oft, dass man ein polnisches Theaterstück auf dem Spielplan eines deutschen Theaters findet. Und wenn, ist es üblicherweise das Werk eines der bewährten polnischen „Klassiker“ wie Witold Gombrowicz oder Slawomir Mrozek, die natürlich zu recht einen Platz im Herzen der deutschen Theatergänger besitzen. Dagegen lässt sich auch nichts sagen. Was jedoch das zeitgenössische polnische Theater angeht - solche Wagnisse erlebt man auf den deutschen Bühnen äußerst selten und wenn es so ist, treten sie fast immer nur vereinzelt auf.
Umso erstaunlicher ist, worauf sich das Berliner Maxim-Gorki Theater in der Spielzeit 2009/10 eingelassen hat. Im Programm konnte man fünf Stücke polnischer Autoren entdecken und sie stammten von Autoren, die sogar in Polen als neu, jung und modern gelten.
Drei dieser Veranstaltungen entstanden als Kooperationen zwischen dem Gorki Theater, dem Polnischem Kulturinstitut und dem Goethe Institut und waren in etwa zweimonatlichen Abständen als halbinszenierte szenische Lesungen im Gorki Studio zu erleben. Es waren die Dramen „Trash story“ von Magda Fertacz, „Jenseits“ von Mariusz Bieliński und „Rad ab“ von Malgorzata Sikorska-Miszczuk. Die Thematik der präsentierten Stücke gab einen Einblick in die Interessen des polnischen Theaters und seine Sicht auf das heutige Leben. Mal wurden die Zuschauer in die Welt der deutsch-polnischen Vergangenheit geführt, die auf ehemaligen deutschen und heute polnischen Gebieten immer noch herumgeistert. Mal wurde man mit der Problematik von Schuld und Unschuld sowie der Verantwortung für das nach eigener Moral verstandene ‚ehrliche’ Handeln konfrontiert, die in eine düstere Mord, Gefängnis und Kleinstadt-Geschichte geformt war. Mal führte der Weg in eine absurde und realitätsferne Welt, in der Terroristen, Separatisten, aber auch eine Krise in der Ehe des polnischen Premierministers sich zu einer politischen Farce verflochten werden. Dargestellt von Schauspielschülern des ETI (Europäisches Theater Institut) unter der Leitung der dort unterrichtenden polnischen Schauspielerin und Regisseurin Bozena Baranowska, entstanden drei spannende Abende, die übrigens viel Beifall im jedes Mal sehr gut gefülltem Zuschauerraum fanden.
Eine Erweiterung des polnischen Programms bildete eine weitere Kooperation. Diesmal inszenierte der Leiter des Gorki Theaters Armin Petras ein zusammen mit den Wiener Festwochen realisiertes Projekt. Das gewählte Stück stammte von Dorota Maslowska und hieß „Zwei arme Polnisch sprechende Rumänen“. Maslowska ist in Polen bekannt als eine Tabus brechende, die gegebene Ordnung zerstörende und für Kontroversen sorgende, junge Autorin, die sich bis jetzt durch ihren Erfolg nicht korrumpieren lässt. Für ihre zwei Romane „Schneeweiß und Russenrot“ und „Die Reiherkönigin. Ein Rap“ bekam sie in Polen viel Anerkennung. Den ersten schrieb sie mit 18, für den zweiten erhielt sie sogar die Nike, den begehrten, wichtigsten Literaturpreis des Landes. „Zwei arme Polnisch sprechende Rumänen“ ist Maslowskas erstes Theaterstück, in dem sie dem Themenkreis und der brillanten Sprachkaskaden ihrer Romane treu bleibt. Die Protagonisten von „Zwei Rumänen“, Parcha, ein durch eine die beliebte polnische Fernsehkultserie bekannt gewordener Schauspieler, und Dschina, eine arbeitslose junge Mutter, versuchen dem Alltag zu entfliehen und kurz danach, mit viel Kraft und Mühe wieder zurück in bekannte Bahnen zu finden. Die Auskünfte über sich selbst und die Absurdität ihrer Lage lassen an der Wahrhaftigkeit der Selbstdarstellung zweifeln. Sind sie wirklich die, für die sie sich ausgeben? Oder sind sie nur verzweifelte, an den Rand der Gesellschaft gedrängte Vagabunden, die nach ihrem Platz im Leben suchen? Bei Maslowska ist nichts eindeutig. Und nichts ist sicher, außer dass die Versuche, durch Partys, Extasy und Sex einen Ausweg zu finden, ins Leere führen. Aber wo liegt der richtige Weg? „Zwei Rumänen“, die seit 2008 zum Programm des Gorki Studios gehören, sorgten sogar bei den letzten Vorstellungen trotz starker WM-Konkurrenz für ein volles Haus.
Den würdigen Abschluss der reichen Palette des zeitgenössischen polnischen Theaters bildete ein Ergebnis eines weiteren Kooperationsprogramms „529 km Geschichte mit Zukunft“. Die Teilnehmer der Kooperation waren diesmal das Maxim-Gorki Theater und das polnische Teatr Stary in Krakau (die Entfernung zwischen Berlin und Krakau beträgt 529 km, daher kommt der Titel). Anteil am Projekt hatte auch das Goethe Institut in Polen, das mit einem anderen eigenem Projekt „After the Fall – Europa nach 1989“ für die jetzige Zusammenarbeit den Anstoß gab. In Rahmen des Erinnerns an den Mauerfall wurde einer der bekanntesten polnischen zeitgenössischen Prosaautoren, Andrzej Stasiuk, beauftragt, ein Theaterstück zu schreiben. Es war sein erstes. „Warten auf den Türken“ wurde im nächsten Schritt am Krakauer Teatr Stary inszeniert und als Gastspiel nach Berlin geholt. Auch dieses Stück, aufgeführt in Polnisch mit Übertiteln, sorgte ebenfalls für ein volles Haus (gespielt wurde auf der großen Bühne im Gorki) und zeitlich verschobenes Gelächter des Publikums war ein deutliches Zeichen dafür, dass es nicht nur aus „Berliner Polen“ und polnischen Touristen bestand. Dieses Stück zeigte einen weiteren Aspekt polnischer Wirklichkeit, in der Globalisierung, Fremdenangst und Fremdenfeindlichkeit, Angst vor Verlust des Auskommens oder seiner Folgen die heutige Realität bestimmen. Stasiuk siedelt seine Protagonisten in dem Niemandsland der polnischen Provinz an, am Rand der nicht mehr existierenden alten Grenze zur Slowakei. Dort bleibt es ihnen, den kleinen Menschen, nur übrig, auf den Anschluss an den westlichen Lebensstandard zu warten, zerrissen zwischen der Unmöglichkeit rascher Veränderungen und der Angst vor deren Anzeichen.
Eine Bilanz aus der letzten Spielzeit ziehend, kann man Gorki zu der Wahl der Stücke gratulieren und das Gelingen des Experimentes loben.
Natürlich wird das polnische Theater auch in den nächsten Jahren Unterstützung brauchen, um auf den deutschen Bühnen zu einem festen Punkt der Spielpläne zu werden. Aber der erste, sehr erfolgreiche Schritt wurde bereits gemacht und er zeigt: auch mit polnischen Texten kann man ein volles Haus erreichen. Das Interesse für das Nachbarland ist auf jeden Fall vorhanden. Aber nichts entsteht von allein. Man darf nicht vergessen: auch die in Deutschland zweifellos erfolgreichen französischen Dramen kommen heute, nach 50 Jahren existierender zahlreicher Kooperations- und Übersetzungsprogramme ohne eine solche Unterstützung nicht ganz aus. Um nur eins dieser Projekte zu nennen: seit 1999 werden jährlich Stücke von zwei deutschen und zwei französischen Autoren zum Übersetzen ausgewählt und als Übersetzungsstipendien des „Theater Transfer (TT) Transfert Théâtral“ vergeben (die diesjährige Wahl wurde bereits in einer Veranstaltung am Deutsche Theater in Berlin verkündet). Auf solche traumhaften Programme muss das polnische Theater noch ein bisschen warten. Aber das Projekt „529 km Geschichte mit Zukunft“ soll in der kommenden Spielzeit am Maxim-Gorki-Theater fortgesetzt werden. Das ist eine gute Nachricht. Vielleicht werden ihr noch weitere folgen.
Iwona Uberman
Erschienen in MOE-Kultur-Newsletter, Ausgabe 70