Nicht am Ural

Gombrowicz im Berliner Ensemble

„Yvonne, die Prinzessin von Burgund“ gehört seit langem zu den Klassikern des Welttheaters. Unter ihnen ist sie aber einer der Unbekanntesten in Deutschland. Natürlich nicht bei der deutschen Kulturelite, für die „Yvonne“ seit ihrer Entdeckung vor etwa 50 Jahren in Frankreich (damals war das Stück bereits 30 Jahre alt) zu dem Bildungskanon gehört und die sich schon immer für ihre Inhalte begeistern ließ. Gemeint ist hier das breite an Theater interessierte und an kulturellem Leben des Landes teilnehmende Publikum. Das Publikum, das spätestens seit der EU-Erweiterung weiß, dass östlich der deutschen Grenze nicht gleich der Ural kommt und dass man da im Osten auch Kultur hat.

Wenn man die Theaterspielpläne in Deutschland der letzten 50 Jahren durchschaut, entdeckt man, dass „Yvonne“ zu den am häufigsten gespielten polnischen Theaterstücken gehört. Aber wann werden sie schon gespielt die polnischen Stücke? Und wann gelingt eine Inszenierung so gut, dass sie nicht nur bei einem Theaterfachmann sondern auch bei einem einfachen Theatergänger wirklich lange in Erinnerung bleibt?

Wer eine Erfahrung mit „Yvonne“ machen bzw. neu machen möchte, sollte das aktuelle Angebot des Berliner Ensembles wahrnehmen und ein Besuch im Theater riskieren. Der Abend wird sich für einen aufmerksamen Besucher lohnen. Die Inszenierung von Günter Krämer, die Anfang April Premiere hatte, ist spannend, regt zum Nachdenken an und hält einen Abend lang bei guter Laune.

„Yvonnes“ Geschichte? Sie spielt am Hof in Burgund. Philipp, Prinz von Burgund, entdeckt eines Tages Yvonne, eine sehr hässliche und schweigsame Erscheinung, die ihn verblüfft, irritiert und schließlich so durcheinander bringt, dass er von ihr nicht mehr loslassen kann. Er beschließt sie zu heiraten. An dieser Stelle setzt die Form-Maschinerie ein. Die Braut muss den Eltern, dem Königspaar, vorgestellt, die Hochzeitzeremonie vorbereitet und mit Pracht abgehalten, die weitere Hofetikette fortgesetzt werden. Was jedoch tun, wenn die Hauptfigur des Ereignisses in den vorgesehenen Rahmen absolut nicht passt und keine Verhaltensregeln beachtet? Das Chaos lässt nicht lange auf sich warten und dauert solange an, bis die Störung beseitigt wird. Yvonne muss sterben.

Die Inszenierung von Günter Krämer ist reich an vielen guten Ansätzen. Auch Kenner des Stückes werden sich der Frische des Textes und dem Überraschenden der Ereignisse erfreuen. Zahlreiche Umstellungen des Textes hauchen dem Drama neues Leben ein, machen es frischer, teilweise noch spannender, ohne jedoch Gombrowicz’ Werk zu entstellen.

Auch die Verlagerung der Geschichte aus den höfischen Zeiten in die Gegenwart funktioniert sehr gut. Der Prinz bleibt Prinz, aber er lebt in einem zeitgenössischen Luxus-Ambiente. Seine Probleme, sich im Leben treiben zu lassen, Langeweile an Sex-Geschichten, Suche nach Anregung in einem Zeitungshoroskop für den kommenden Tag passen auch in die heutige Welt. Das ebenfalls zeitgemäß und elegant gekleidete Königspaar könnte ohne weiteres aus der Welt der Reichen und Namhaften stammen, wenn… wenn… (und in solchen Detail-Elementen wird die groteske Welt der Dramen von Gombrowicz wunderbar präsent) es nicht vergessen hätte, ihre königlichen Symbole, die Kronen abzulegen.

Ein weiterer guter Einfall der Inszenierung, der sich vielleicht als sein entscheidender erweist, ist die anfängliche, räumliche Platzierung von Yvonne: sie sitzt im Publikum, ist eine Theaterzuschauerin. Es vergeht viel Zeit, bis wir sie endlich auf der Bühne sehen. Dies erzeugt hohe Spannung, lässt unsere Phantasie frei laufen und ihre eigenen Bilder finden. Wir erfahren früh genug, dass es sich um eine Frau handelt, die abstoßend, hässlich und widerwärtig in den Augen ihrer Umgebung ist. Bis wir die sehr unvorteilhaft gekleidete und geschmacklos geschminkte Schauspielerin Maria Happel sehen, ist das Bild in unseren Köpfen davon, was wir zu sehen haben, fertig. Wer dieser Beobachtung weiter nachgeht, wird entdecken, wie sehr sich der Begriff der Hässlichkeit im Laufe der Zeit verändert hat. Und, dass es heute zwar viele Vorstellungen von Hässlichkeit gibt, man sie aber nicht mehr auf einen gemeinsamen Nenner bringen kann. Anregungen zum Nachdenken und Anstöße zur Reflexion bewirkt die Inszenierung an vielen solchen Stellen und das ist eine ihrer größten Stärken.

Günter Krämer geht auch der Frage nach, wie wir auf einen Menschen reagieren, der sich anders benimmt, als wir es voraussehen, von ihm haben wollen und es in der Situation für angemessen halten. Es tut gut, mit anzusehen, wie Irritation ja Wut über von uns nicht erwartetes Verhalten, dargestellt, die „Sau richtig rausgelassen“ wird. Es befreit, auch wenn es nur als Spiegelbild auf der Bühne passiert (herrlich die aufgebrachte Königin, Traute Hoess, aber auch bestechend der lüsterne König, Axel Werner). Die Szenen von „Yvonne“ lassen schnell ins eigene Leben blicken und dort nicht weniges von Gombrowicz’ scharfsinnigen Beobachtungen über äußere Form und erzwungene Fratze entdecken. Es ist also ein lehrreicher Abend. Wer sich aber entschlossen hat, sich nach einem harten Arbeitstag lediglich zu amüsieren, kann sich auch nur entspannt zurücklehnen. Er kommt auf seine Kosten. Vielleicht sogar

so gut, dass er etwas davon dem polnischen Theater abgeben kann. Einen kleinen Gedanken an seine Existenz. Denn es gibt es, das polnische Theater. Und das seit mehr als 100 Jahren. Und es liegt zum Greifen nahe. Es liegt nicht am Ural.

Iwona Uberman

Erschienen in MOE-Kultur-Newsletter, Ausgabe 31