Das große Wir - polnisches Theater im Jahr 2024

Im ersten Jahr nach dem Ende der rechtskonservativen PiS-Regierung setzt das polnische Theater mit beliebten Klassikern und wichtigen aktuellen Themen auf Gemeinschaft

Bei den Parlamentswahlen in Polen am 15. Oktober 2023 hat die rechtskonservative PiS-Partei die Mehrheit der Stimmen bekommen. Sie konnte jedoch keine Regierung bilden. So hat eine Koalition aus verschiedenen Oppositionsparteien das Regieren übernommen und die meisten polnischen Theater konnten aufatmen. Zwar sind konservative und rechtsnationale Politiker auf lokaler Ebene nicht verschwunden, der Wechsel hat aber – zumindest zeitweise – eine andere Atmosphäre mit sich gebracht. Wie sich zurzeit die polnische Theaterszene gestaltet, wird hier skizziert.

Eine der ersten guten Nachrichten nach den Wahlen war, dass das Słowacki-Theater in Kraków/Krakau, das sich in den letzten drei Jahren an die Spitze unter den polnischen Bühnen hochgearbeitet hat, nicht gleich im Oktober 2023 durch die rechtskonservativen Behörden zerstört wird. Dieses Szenario war schon ganz nah, aber dank der neuen Entwicklung wurden die Versuche, den jetzigen Intendanten ohne rechtliche Grundlagen abzusetzen, vorerst auf Eis gelegt. Im nächsten Schritt, Ende April 2024, nach 800 Tagen, wurde das Verfahren der Amtsenthebung offiziell eingestellt. Wie es weiter mit dem Theater geht, war bis September 2024 nicht klar, erst dann hat sich die Lage stabilisiert: das Kulturministerium wird ab 2025 das Theater mitführen, der bisherige Intendant Krzysztof Głuchowski bleibt.

Słowacki-Theater in Krakau

Unter Głuchowski entwickelte sich das Słowacki-Theater seit 2016 zuerst zu einem künstlerisch hervorragenden und programmatisch interessanten Ort. Nach der Inszenierung „Totenfeier“ von Adam Mickiewicz in der Regie von Maja Kleczewska in 2021, die als starke Kritik an der damals aktuellen Politik gelesen wurde, geriet das Theater in Konflikt mit dem Kulturministerium und lokalen Behörden, die forderten, „Totenfeier“ sofort abzusetzen. Krzysztof Głuchowski und sein Team lehnten dies ab und diese Haltung hat ihnen viel Achtung und Sympathie eingebracht. „Słowak“, so der Kosename, wurde zum Ort der politischen Opposition. Bald wurde das Haus auch wegen künstlerischer Erfolge – nach „Totenfeier“ entstanden dort weitere sehr gelungene Aufführungen -, zum Liebling bei Publikum und Fachkritik.

Was macht das Phänomen von „Słowak“ aus? Das Theater macht es vor, wie man sich auf Themen und Bedürfnisse fokussieren kann, die sowohl die Region wie auch das ganze Land betreffen. Es trifft den Nerv der Zeit und schafft es, seine Inszenierungen so zu gestalten, dass sie für jeden Typus des Zuschauers zugänglich und spannend sind, ob ein Theaterkenner mit viel Theatererfahrung und Vorkenntnissen oder ein Gelegenheitsbesucher, der sich mal gern etwas Fesselndes und Unterhaltsames zeigen lässt. Die Theaterleitung legt auch Wert auf schauspielerische Leistung im Einzelnen und als Ensemble. In gewissem Sinne knüpft man also hier an die Tradition des öffentlichen Theaters der Shakespeare-Zeit an.

Ein weiteres Stichwort, mit dem man dieses Theater beschreiben könnte, ist, ein Ort der positiven Utopien zu sein. Dass sie heute stark gebraucht werden, weiß man inzwischen überall. Die Frage ist, wie findet man sie und wie kann man sie vermitteln, aber manchmal auch: wie man aus der oppositionellen Protesthaltung herausfindet und weitergeht. Das Słowacki-Theater hat für sich einen Weg gefunden, Inszenierungen wie „1989“, „Die Hochzeit“ oder „Der große Gatsby“ sind besonders gute Beispiele.

© Bartek Barczyk für Teatr im. Słowackiego w Krakowie, "1989", Regie: Katarzyna Szyngiera

„1989“ ist ein Hiphop-Musical, das die Geschichte der Solidarność-Bewegung aufgreift. Es erzählt über den friedlichen Kampf der Gewerkschaftler und anderen polnischen Oppositionellen, der zu Veränderungen im Land und schließlich zum Fall des Kommunismus in Polen führte. Auf dem Hintergrund der damaligen Realität werden die Privatleben von drei Ehepaaren geschildert: Lech und Danuta Wałęsa, Jacek und Gaja Kuroń und Władysław i Krystyna Frasyniuk. Es geht dabei um Liebesbeziehungen, den Alltag in den Familien der Oppositionsanführer, der bei den typischen Schwierigkeiten dieser Zeiten kein typischer Alltag war, auch um Konflikte und Familiendramen. Die Privatperspektive wie auch starkes in den Fokus Rücken der Frauen und ihres Beitrags zum Gelingen des Widerstands erweitern die bisher bekannten Narrative, es sind nicht mehr Storys über männliche Heldentaten. Auch die Darstellung des politischen Handelns ist von dieser Heldenerzählung etwas entfernt, da die Erfolge, Beispiele von Mut und ungewöhnlichem Agieren durch Zeigen der inneren Streitereien um Leaderschaft, Strategien und immer wieder politischer Zerrissenheit der Bewegung ergänzt wurde. Momente der Ratlosigkeit und des Scheiterns fehlen nicht.

So rutscht die Erzählung nicht in Pathos und Verklärung ab. Dafür sorgen auch Rappen und Hiphop, sie machen die große Geschichte leichter zugänglich und attraktiver für jüngeres Publikum. Aber auch diejenigen, die die Zeiten selbst erlebt haben, entdecken Einiges, was ihnen unbekannt war. Der Mythos bekommt Bodenständigkeit, was aber nicht verhindert, dass sich im Publikum ein Gefühl von Stolz auf das in der jüngsten polnischen Geschichte gemeinsam Erreichte einstellt. Durch gemeinsames Zuschauen und Teilen derselben Vergangenheit entsteht auch im Theater ein gewisses Gemeinschaftsgefühl.

Die Autor:innen der Inszenierung: Katarzyna Szyngiera, Marcin Niepiórkowski, Mirosław Wlekły (Texte), Katarzyna Szyngiera (auch Regie) und Andrzej „Webber“ Mikosz (Musik) wurden vor allem für Erschaffung eines positiven Mythos ausgezeichnet. Die Premiere war 2022, zu den Zeiten als man aus den neuen Schulbüchern den Namen von Wałęsa strich und an den Fakten vorbei spärliche Informationen über Solidarność verfasste. Die Leistung der Sprechtheaterschauspieler, die unabhängig vom Alter und Ausbildung rappten und in Hiphop-Choreografien tanzten darf nicht unerwähnt bleiben. Da die Karten lange im Voraus ausverkauft sind, hat das polnische Fernsehtheater Ende Mai 2024 eine Liveübertragung von „1989“ stattfinden lassen. Die Einschaltquoten waren hoch.

Am 16.März 2024, auf den Tag genau 123 Jahre nach seiner Uraufführung im Słowacki-Theater (damals Teatr Miejski), fand die Premiere von „Die Hochzeit“ in der Regie von Maja Kleczewska statt. Der Autor (und Regisseur der Uraufführung 1901), Stanisław Wyspiański hat sein Leben lang in Krakau gelebt. „Die Hochzeit“ gehört genauso wie „Totenfeier“ von Mickiewicz zur nationalen Klassik, die Krakauer sind auf den Dichter von Młoda Polska, der polnischen Sezession, besonders stolz. Schon das Aufführen des Stückes zum Jubiläum der Uraufführung hätte in der Stadt zum wichtigen Kulturereignis gereicht. Die Inszenierung von Kleczewska machte daraus ein gefeiertes gesamtpolnisches Ereignis.

Der Gegenstand des Dramas ist eine Hochzeit, die im Dorf Bronowice stattfindet (heute ein Stadtteil von Krakau). Die Braut ist Bauerntochter, der Bräutigam – ein junger Intellektueller aus gutbürgerlicher Krakauer Familie – die beiden gab es wirklich, ihre Hochzeit (bei der auch Wyspiański dabei war) fand tatsächlich statt. Es prallen hier zwei Gruppen aufeinander: Stadtbürger und Bauern, die Kluft zwischen ihnen ist groß, gegenseitige Vorurteile unübersehbar und Verachtung der Städtler der Landbevölkerung gegenüber stark. „Die Hochzeit“ ist ein Stück über eine geteilte polnische Gesellschaft, über polnische Charakterfehler und nationale Traumata, im Laufe des Abends erscheinen der Hochzeitsgästen Geister aus der Vergangenheit.

Kleczewska inszeniert das Geschehen als ein bunter, pulsierender Spektakel, in Rhythmus heiterer Musik, mit Volkstänzen und Gesängen. Die Kostüme sind Kopien der Volkstrachten und Kleider aus der Uraufführung von Wyspiański. Diese und das Premierendatum sind Verneigung der Regisseurin an die Vergangenheit, ansonsten ist Kleczewskas Lesart des Stückes gegenwärtig, sie führt mit den Zuschauern ein Gespräch. Die Spaltung der heutigen polnischen Gesellschaft ist gleich erkennbar. Bei den Eliten (ökonomischen und politischen) wird ihre Engstirnigkeit, Arroganz und Verachtung gegenüber dem Volk sichtbar, bei den anderen gibt es populistische Schwächen der Masse. Das Bevorzugen von kurzfristigen Privatinteressen (oder dieser der eigenen Partei) vor dem allgemeineren Gemeinschaftswohl kommt auf beiden Seiten vor.

Auch manche alte polnische Nationalvergehen werfen bei Kleczewska ihre langen Schatten ins Heute. Darunter die Verbrechen oder Mittäterschaft an Verbrechen gegen Juden, sie gehören nicht nur der Vergangenheit an. Eine der Figuren, Rachela, Tochter des jüdischen Schenkinhabers, erscheint in einer Szene blutüberströmt; vieles deutet nicht nur auf Schläge hin, sondern auch auf sexuelle Gewalt. Die Hochzeitsgäste schauen weg, keiner eilt der Jüdin zur Hilfe. Es ist keine Szene aus dem Stück von Wyspiański. Was aber damit gemeint ist, wird verstanden, die durch die PiS-Partei geleugneten Fakten ließen in den letzten Jahren den Antisemitismus brutaler werden und erstarken.

Ein weiteres Thema in Kleczewskas „Hochzeit“ ist der Krieg. Wernyhora (eine legendäre ukrainische Sänger-Gestalt) wird von einer ukrainischen Schauspielerin gespielt. Ihre Figur kommt als Geist zum Fest direkt von der Front und singt ein Trauerlied auf Opfer des jetzigen Krieges. Dieser passiert ja ganz nahe, gleich hinter der polnischen Ostgrenze und wird in der Aufführung noch näher imaginiert durch Videoprojektionen vom angegriffenen Krakau. Über die mögliche Kriegsgefahr, wird in Polen von der Politik seit längerem viel geredet. Dies ruft Ängste hervor, mit denen die Bevölkerung dann allein gelassen wird. Das Theater nimmt sich dem an, konfrontiert Polen mit ihrer Angst, mit Bedenken. Man redet hier nichts klein, ein von der PiS so beliebtes Narrativ über polnisches Heldentum kommt hier nicht vor.  Stattdessen ist zum Schluss eine leise Mahnung ablesbar: Angesichts dieser wirklichen Bedrohung sollte man die polnischen inneren Streitereien und Kleinkriege sein lassen. Man hat im Land gemeinsame Sorgen und fürs Meistern der wichtigen Aufgaben braucht man Zusammenhalt.

Diese Inszenierung spricht viele Polen an, es sind wichtige polnische Themen und aktuelle Nöte, die verhandelt werden. Das Theater redet mit dem Zuschauer, man fühlt sich direkt gemeint, bekommt Aussagen auf den Weg mit, Stoff zum Nachdenken. Die Inszenierung ist ein Großereignis nicht nur für das Publikum. Krzysztof Głuchowski lässt das ganze Ensemble daran teilnehmen. Durch doppel- und dreifache Besetzungen spielen alle mit (er selbst, der Schauspieler ist, trat bei der Premiere auf). Das verbindet, stärkt den Teamgeist und fördert Chancengleichheit.

Übrigens, am zweiten großen Krakauer Theater Stary Teatr, das in den letzten Jahren unter PiS-Kontrolle stand, läuft seit der Premiere im „Słowak“ die wiederaufgenommene „Die Hochzeit“ Inszenierung, in der Regie von Jan Klata. Es war seine Abschiedsarbeit, bevor er 2016 den Intendantenposten räumen musste. Sie war in den letzten Jahren in Stary Teatr kaum gespielt, obwohl Nachfrage seitens des Publikums da war. Jetzt kann man die beiden Aufführungen miteinander vergleichen, das Angebot wird angenommen. Im Theater wie anderswo belebt die Konkurrenz das Geschäft.

Auch die nächste Premiere am „Słowak“, die im April 2024 stattfand, „Der große Gatsby“ von Scott Fitzgerald, dramatisiert und inszeniert von Jakub Roszkowski, passt gut ins heutige Polen. In der nach 1989 neu geformten Konsumgesellschaft spielt der American Dream immer noch eine wichtige Rolle und Teilhaben am Wohlstand ist für viele ein besonders erstrebenswertes Ziel. Sich solcher Problematik nach den Sorgen mit polnischer Politik in den letzten Jahren wieder widmen zu können, stößt auf Interesse. In einer Mischung aus Sprechtheater, Musical und Spiel mit den Puppen, bietet die Inszenierung herrliche Unterhaltung und gibt den Zuschauern die Illusion, bei den berauschenden Partys mit ausgelassenen Tänzen dabei zu sein. Auch die anfangs romantische Liebesgeschichte kann längere Zeit erfreuen, bevor sie dann bekanntlich schlecht ausgeht.

Die Hauptaussagen des Romans und die daraus resultierenden Lebensweisheiten werden wiedergegeben: das Geld hilft Gatsby nicht, da „das Geld nicht vor Unglück rettet“, Gatsbys Liebe wird nicht in Erfüllung gehen, da „auf die Liebe kein Verlass ist“. Was ist also erstrebenswert, wie lohnt es sich zu leben? Diese Frage wird von Roszkowski schon früh diskret eingefädelt. Beim Reflektieren helfen Szenen mit Puppen und Romanepisoden, denen man üblicherweise keine Aufmerksamkeit schenkt – die letzteren sind in der Welt der Bediensteten zu finden. Durch dramaturgisch geschicktes Zusammenziehen der Figuren, beispielsweise wie die von Daisy und Myrtle, der Frau aus der Tankstelle, vergleicht man immer wieder verschiedene Schicksale und überlegt, wie das Leben einer Figur – und das eigene? - hätte aussehen können, wenn sein Verlauf weniger, oder eben mehr, erfolgreich gewesen wäre.

Die Szenen mit den ins Licht gerückten Gesprächen von Bediensteten zeigen eine Seite von Gatsby, die für die Hauptgeschichte keine Rolle spielt. Es entsteht dabei ein Bild eines anständigen, hilfsbereiten Menschen, dessen kleine gute Taten manchmal wahre Wohltaten sind. Das Personal erzählt gut von ihm nach seinem Tod, die Leute werden ihn in Erinnerung behalten. Lohnt es sich in der heutigen Welt anständig zu sein? „Der große Gatsby“ ist ein populäres, durch Glamour glänzendes und mit viel Lust und Laune perfekt gemachtes Theater mit einer Antwort auf diese Frage, einer Botschaft im Hintergrund, die diskret angeboten wird. Ja, es lohnt sich, es hat Wert, wenn man Gutes hinterlässt und die Leute später anerkennend über einen reden. In einer auf eigenen Vorteil bedachten heutigen Gesellschaft ist diese Aussage ein Denkanstoß, fast ein neuer Gedanke, den, wer möchte, in dieser Inszenierung finden kann. Gezwungen dazu wird man nicht.

Komedia-Theater in Warschau

Klassiker, vor allem die polnischen Klassiker, sind zurzeit nicht nur in Krakau gefragt. Auch in Warszawa/Warschau läuft ein Stück aus dem Kanon der polnischen Literatur. Es ist „Zemsta“ („Die Rache“) von Aleksander Fredro, dem bedeutendsten Komödienschreiber, der im Land als polnischer Molière gilt. Die Inszenierung von Michał Zadara ist ein Hit, den ganz Warschau sehen will, die Karten sind schwer zu bekommen. Im Werk von Fredro geht es um einen polnisch-polnischen Kleinkrieg, d.h. einen Nachbarstreit von zwei Kleinadeligen (wir sind am Anfang des 19. Jahrhunderts), die sich ein Schlösschen teilen und da sie sich nicht ausstehen können, versuchen sie durch Intrigen, sich gegenseitig das Leben zu vermiesen. Es geht um Liebe, Leidenschaften, um großes Geld, Gewalt und schicksalhafte Verwicklungen, die zum Schluss zu Versöhnung und allgemeiner Zufriedenheit führen.

© Marek Zimakiewicz , "Zemsta"/"Die Rache", Regie: Michał Zadara

Michał Zadara liest aufmerksam den Text, nimmt Fredro ernst, ohne distanzierter Ironie, überträgt die Handlung in die Gegenwart und zeigt nebenbei ohne das Stück zu verändern, wie man Mechanismen der Gewalt in die des Rechtssystems überführt. Der Streit spielt diesmal in der dunklen Welt der zwielichtigen Geschäfte, das Bühnenbild ist modern, die Kostüme ebenfalls, statt Säbeln, Tinte und Pergament gibt es Handys, Laptops und Revolver. Ähnlich wie bei Maja Kleczewska werden heutige polnische Verhältnisse in der Inszenierung von Zadara gut sichtbar, es reicht dafür nur die Regie. Die Schauspieler sprechen sogar in altpolnischen, gereimten Versen und – man staune: es passt! Da „Die Rache“ bis heute Schullektüre ist, spricht das Publikum gelegentlich manche Repliken mit. Die Aufführung bietet herrliche Unterhaltung, hat Tempo und Witz, spielt mit den alten Konventionen und dem Medium Theater und begegnet diesen auf Augenhöhe. Es überrascht wie frisch, gegenwärtig, amüsant und klug der alte Meister sein kann. Neben dem überzeugenden Regiekonzept sorgen die renommierten Schauspieler:innen (bekannte polnische Namen aus Film und großen Theatern) mit ihrer Hochleistung für Furore und den Gesamterfolg.

Man könnte der Kulturpolitik der Pis-Regierung fast dankbar dafür sein, dass sie die polnischen Klassiker so vehement propagierte. Nennenswerte oder nur passable Inszenierungen entstanden dabei nicht, aber das Interesse der bekannten progressiven Regisseur:innen an nationalen Klassik und polnischen Themen wurde dabei belebt. Unter ihnen war Jan Klata der Einzige, der sich seit Jahren kontinuierlich diesen Stoffen widmete. Ähnliches geschah in Polen schon bei den Demos, bei denen die PiS-Gegner bald nicht zulassen wollten, dass die polnischen Staatssymbole von den PiS-Anhängern völlig vereinnahmt wurden und auch sie fingen an, diese zu tragen. Regie-Meister:innen des modernen Theaters nahmen sich langsam ebenfalls der polnischen Klassik an und zeigen jetzt, wie man das macht. Und mit was für einem Erfolg! Der neue Trend macht eine Runde, das Publikum staunt, was möglich ist, und macht begeistert mit.

„Die Rache“ läuft am Warschauer Theater „Komedia“, einem Theater, das auf der polnischen Theaterkarte in den letzten Dekaden nicht existierte, weil man dort künstlerisch anspruchslosen, platten Boulevard spielte. Die neue Leitung um den Intendanten Krzysztof Wiśniewski steht für ein anderes Programm und hat schon jetzt neben dem Stück von Fredro mehrere erfolgreiche Produktionen, wie beispielsweise „You can fail! Porażka Show“ (You can fail! Eine Niederlage-Show), eine Koproduktion mit dem Teatr 21 (die Gruppe bilden Mitspielende mit Downsyndrom), über Menschen, so im Programmzettel, die „ein besonderes Talent zu Misserfolgen haben“. Es ist eine amüsante, berührende und Mut machende Inszenierung, die alle Beteiligten, das Publikum eingeschlossen, mit persönlichen Peinlichkeiten und schamhaften Flops konfrontiert, mit Erinnerungen daran zu versöhnen lernt und hilft, das Verlieren an sich zu verstehen.

Warschauer Theatertreffen

Weitere Veränderungen in der polnischen Theaterwelt nach dem Ende der PiS-Regierung konnte man bei dem Warszawskie Spotkania Teatralne (Warschauer Theatertreffen) im Mai 2024 beobachten: Das Programm war offener als in den Ausgaben zuvor, manche Themen kehrten wieder, ohne dass die Organisatoren Repressionen seitens des Kulturministeriums (wichtiger Mitfinanzierer) befürchten mussten. Teatr Współczesny aus Szczecin präsentierte „Opowieści babć szeptane córkom przez matki“ (Erzählungen der Omas, geflüstert den Töchtern durch Mütter), in dem sich die rumänische Autorin und Regisseurin Gianina Cărbunariu mit dem Thema der Abtreibung auseinandersetzte, aus Lodz wurde von Teatr Nowy die LGBTIQ+-Thematik in einer lokalen Geschichte aus dem Ende der 1930er Jahre verankert mitgebracht: „Dobrze ułożony młodzieniec“ (Ein Jüngling mit guten Manieren) von Jolanta Janiczak in der Regie von Wiktor Rubin, eine Erzählung über die Zeiten der „neuen Freiheit“ der 1990-er Jahre mit Acid Techno-, Jungle- und Punk-Musik „Mój pierwszy rave“ (Mein erster Rave) von Agnieszka Jakimiak, Regiemitarbeit Mateusz Atman kam ebenfalls aus dem Teatr Nowy in Lódź. Auch Kritik an der Kirche war in mehreren Aufführungen zu vernehmen.

Bei dem Festival gab es aber noch ein Gastspiel, was zeigte, dass nicht nur ein attraktiv gemachtes populäres Theater der Mitte bei breiterem Publikum in Polen gut ankommt. Auch ein mit einfachen Mitteln gemachtes Theater, das schwierigste Themen aufnimmt, mitunter schockiert in seiner schonungslosen Ehrlichkeit und unter die Haut geht, kann auf große Resonanz treffen.

Es handelt sich um die Inszenierung von „Jak nie zabiłem swojego ojca i jak bardzo tego żałuję“ (Wie ich meinen Vater nicht umbrachte und wie sehr ich das bedauere) von Mateusz Paukła (Text und Regie), das in einer Kooperation zwischen dem Żeromski-Theater in Kielce und dem Teatr Łaźnia Nowa in Krakau entstanden ist. Diese Inszenierung gilt als die stärkste Inszenierung der letzten Spielzeiten in Polen.

Zeromski-Theater in Kielce

Es ist eine Rekonstruierung des langsamen Sterbens des Vaters von Mateusz Pakuła, beschrieben von dem Moment der Bauchspeicheldrüsenkrebsdiagnose, über Behandlungsversuche und sich unerträglich lange hinziehende Sterbephase und Agonie bis hin zum Tod. Pakuła hat – zusammen mit weiteren Angehörigen – mehrere Monate lang das Ableben seines Vaters pflegend begleitet, darüber ein Tagebuch geführt (das als Buch erschien) und später nochmal seine Erlebnisse in Theaterform verarbeitet. Die Aufführung ist minimalistisch, es ist ein Theater der Worte ohne szenische Bebilderung des Geschehens. Sie erzählt schonungslos ehrlich und mutig einfach wie es war, was für Leiden für alle Beteiligten medizinische Verlängerung der unheilbaren, sehr schmerzhaften Krankheit mit sich bringen kann. Es zeigt auch, was für ein Trauma die Familienmitglieder, die damit größtenteils allein gelassen werden, auch später mit sich zu tragen haben. Pakuła spricht es an, was ein Verbot der Euthanasie (sein Vater fleht ihn an, ihm dabei zu helfen) in einem Land bedeutet, in dem die katholische Kirche nicht einmal erlaubt, eine Debatte zu dem Thema zu führen.

Auch bei dieser Inszenierung muss die schauspielerische Leistung hervorgehoben werden – man staune was für großartige Schauspieler (vier Männer, einer übernimmt verschiedene Episoden-Frauenrollen) jenseits der großen Metropolen zu erleben sind. Dem Autor und Regisseur gilt Anerkennung für sein Fingerspitzengefühl, sein einfacher Stil und zurückgenommene Narration, sowie für dramaturgisch und schauspielerisch richtig gesetzte Momente des skurrilen Humors, der immer wieder hilft, Spannung abzulassen und darüber hinaus das Leben wie es ist - äußerts Dramatisches und Komik liegen manchmal nahe beieinander – darzustellen.  Dabei wird das Tragische nicht unterlaufen, es wird verstärkt, jedoch ohne, dass es unerträglich wird. So entsteht ein Theater der starken Emotionen und es wird sowohl von dem Publikum wie auch der Theaterkritik gefeiert.

Das Theater nimmt sich auch hier einem Thema an, was in der heutigen Gesellschaft immer aktueller wird. Und es bietet Unterstützung: Denjenigen, die Ähnliches schon erlebt haben, hilft es vielleicht ein bisschen, dies besser einzuordnen oder ein Gefühl zu bekommen, dass sie mit ihrer Geschichte nicht allein sind. Denjenigen, die es zustoßen könnte, ermöglicht, die ersten emotionalen Erlebnisse zu machen, sich etwas darauf zu rüsten, was kommen könnte (manche Mitarbeiter des Gesundheitswesens oder der staatlichen Institutionen kommen bei Pakuła wenig positiv hinweg).

Ein weiterer Aspekt in dieser, noch unter der PiS-Regierung entstandenen Produktion (die Premiere war im Januar 2023) ist wichtig zu erwähnen. Sie entstand als eine Kooperation zwischen einem Provinztheater (Kielce) und einem Großstadttheater in Krakau. In dieser Zeit war es von Bedeutung, sich zusammenzutun. Die Szene rückte näher und die Provinz, die es oft noch schwerer hatte als Großstädte, wurde solidarisch nicht vergessen. Es bleibt zu hoffen, dass dieses Modell auch in der Zukunft weiterverfolgt wird.

In Polen kommt gerade Theater an, das ein breites Publikum anspricht, da es Geschichten zeigt, die alle hören wollen, sei denn, weil sie aktuell sind und alle betreffen, also von allen verstanden werden, sei denn, weil sie schon bekannt sind und man möchte sie nochmal hören (in unsicheren Zeiten kann es Halt geben, auf das Bekannte zurück zu greifen). Oder einfach, weil man sie nur von Hören-Sagen kennt und einfach wissen möchte, was dort genauer steht. Auf solche Geschichten müssen sich Regie und Schauspieler hundertprozentig einlassen, Talent und Fertigkeiten zur Verfügung stellen, damit man damit beeindrucken kann. Was noch wichtig ist: dieses Theater muss da sein und Kontakt mit dem Publikum halten wollen.

TR, Nationaltheater und Nowy Theater in Warschau

Die andere Art des Theaters, die in den letzten dreißig Jahren führend war, das postmoderne Theater – oder wie man in Polen eher sagt, das progressive Theater – hat in den letzten Zeiten weniger anzubieten. Es verfolgt eigene Interessen, schaut wenig Richtung des Publikums, erzählt oft Geschichten, die schwer zugänglich sind und oft nur Beteiligte angehen. So beispielsweise benutzte Michał Borczuch im TR in Warschau den „Zauberberg“ von Thomas Mann als Sprungbrett, um über das Gefühl der Isolation der Beteiligten in der Pandemie zu erzählen. Allgemeinere Reflexionen aus dieser Zeit haben sich nicht vermittelt, was auf der Bühne passierte, war selten klar, auch warum mehrere Männerfiguren von Frauen gespielt wurden, war - über die klischeehafte Aufforderung „Jetzt sollen Frauen ran!“ - nicht zu klären. Und all diejenigen, die gekommen sind, um zu erfahren, wovon das bekannte Buch von Mann handelt, gingen leer aus.

Nicht gelungen war auch „König Lear“ am Teatr Narodowy (Nationaltheater) in Warschau. Starke Regiehandschrift von Janusz Wiśniewski erschuf opulente Bühnenbilder, die zwar beeindrucken konnten, aber kaum zu entschlüsseln waren. Genauso rätselhaft blieb die Idee, den Königsnarren durch eine Frau zu besetzen und gleichzeitig die Szenen mit Lear zu reduzieren (der Monolog während des Sturms wurde ganz gestrichen). Es half wenig, dass die Närrin ihre Rolle grandios spielte. Worüber im Allgemeinen das veränderte Stück von Shakespeare erzählen wollte, erschloss sich trotz großartiger Leistung der Schauspieler:innen nicht.

Noch eine andere Variante des progressiven Theaters bietet Nowy Teatr in Warschau an. Im April 2024 fand die Premiere von „Elizabeth Costello“ nach John M. Coetzee in Regie von Krzysztof Warlikowski statt, einem zweifellos der größten Altmeister des polnischen Theaters. Es war eine Megaproduktion für die größten europäischen Festivals, in Warschau gab es nur wenige Vorstellungen zu sehen. Warlikowski-Kenner im Publikum sowie die Theaterkritik schätzten diese Aufführung hoch ein. Diejenigen aber, die nicht mit diesem Theater aufwuchsen und nicht über dreißig Jahre seine Sprache gelernt haben, blieben oft ratlos zurück. Ähnlich verhält es sich mit anderen Nowy Teatr-Produktionen: Sie sind experimentell, werden für wichtige Festivals (gern internationale) gemacht, nicht für das breitere Publikum in Polen. Natürlich, ist auch dies eine wichtige Aufgabe, das polnische Theater in der Welt zu zeigen, aber das jetzige Modell von Nowy Teatr wird teilweise kontrovers gesehen.

Es bleibt spannend, die weitere Entwicklung des Theaters in Polen zu beobachten. Ob sich die jetzige Tendenz zum populären und zugänglichen „Theater der Mitte“ noch verstärken wird? Ob das progressive Theater, angesichts der Konkurrenz der so starken, neuen Art, zu seinen Hochleistungen wieder findet? Die gute Nachricht ist, dass man sich überall mehr auf die künstlerische Arbeit konzentrieren kann und nicht aufs Überleben im Gegenwind der Politik.