© Tamer Bayri
Ein kleiner Ort
Im Hinterhof der Prinzenallee 33 verbirgt sich ein spannender Ort. Sehr bekannt ist er noch nicht, obwohl inzwischen einige Inszenierungen, die dort stattfinden, als Geheimtipp gelten könnten. Man kann hier Theaterabende erleben, die tiefen Eindruck hinterlassen. Sparsam in Mitteln, durch ihre Themen und Wahrhaftigkeit in der Darstellung wirken manche Aufführungen noch lange nach. Die Rede ist vom Ballhaus Prinzenallee, das seit 2021 zur Theaterlandschaft Berlins gehört. Die Idee, im Wedding ein „nonstop politisches Theater“ zu gründen, kam von Ufuk Güldü, dem Leiter des seit 2018 auf Türkisch spielenden Theater28. Zusammen mit zwei Freunden aus der Theaterszene beschloss er einen Freiraum zu schaffen für engagierte Projekte junger Kunstschaffender mit Migrationshintergrund, für Newcomer:innen in der Stadt und für Autor:innen, Regiseur:innen sowie Darsteller:innen, die ihre Länder verlassen mussten oder aus sonstigen Gründen dort keinen Platz für sich mehr sahen. Aber auch Theater der schon in Berlin etwas mehr etablierten türkischen Community sollte an diesem Ort nicht fehlen, genauso wie die Möglichkeit einer Begegnung und engen Zusammenarbeit zwischen nichtdeutschen und deutschen Künstler:innen. Bei Letzteren handelt es sich um solche, die sich wünschen, tiefer in die ursprünglichen Lebenswelten ihrer migrantischen Kolleg:innen einzutauchen, um sie nicht nur oberflächlich zu kennen.
All denjenigen, denen die Geschichte des Ballhaus Naunynstraße bekannt ist, wird das Programm von Ballhaus Prinzenallee zum Teit bekannt vorkommen. Aber seitdem die Leiterin des Ballhaus Naunynstraße Shermin Langhoff mit ihrem Team ins etablierte Gorki Theater umgezogen ist, wo sie ein „post-“ oder „postpost-“migrantisches (also allgemein deutsches) Programm umsetzt, gibt es für die neu dazugekommenen oder jungen Nachwuchskünstler:innen, die sich mit ihren persönlichen Migrationsgeschichten und manchmal noch frischen Fluchterlebnissen aus ihren Herkunftsländern auseinandersetzen wollen, am Gorki nicht mehr genügend Platz. Auch Ballhaus Naunynstraße hat inzwischen sein Profil geschärft und sich auf die black community fokussiert. Damit paßt auch hierher nicht jedes Thema und jede Herkunftslandgeschichte hinein.
Güldü, Oliver Toktasch und Christian Bojidar haben diese Lücke erkannt und darin eine Herausforderung für sich gesehen. So wurde Ballhaus Prinzenallee zur Heimat für afghanische Jugendliche, russische Gestrandete, aus vielen Ländern stammende Theaterpädagog:innen in spe (die dort ihre Eigeninszenierungen machen) und deutsch-türkische Kunstschaffende, für die es in der Türkei nicht mehr und in Deutschland immer noch nicht ausreichend Platz an Theatern gibt.
Ballhaus Prinzenallee ist ein wichtiger Ort. Dort werden schmerzhafte Themen wachgehalten, da manche Wunden der Gegenwart, solange sie noch bluten, nicht vergessen werden sollen. Dazu gehören die Morde der Terrorgruppe NSU. Das zu diesem Thema 2015 entstandene Stück „NSU – Auch Deutsche unter den Opfern“ von Tugsal Mogul fand damals viel Beachtung und wurde an mehreren Theatern inszeniert. Heute kann man es kaum noch irgendwo sehen, obwohl vieles darin weiterhin sehr aktuell ist. Am Ballhaus Prinzenallee steht das Stück – nachhaltig – im Spielplan, es wurde vom Ehepaar Övul und Mustafa Avkiran inszeniert. Moguls Drama und die Inszenierung passen gut zueinander. Das auf Fakten und Realien basierende nüchterne Erzählen zeigt komprimiert eine unglaubliche (und beunruhigende) Anhäufung von Zufällen: Bearbeitung der Mordfälle durch zwielichtige Ermittler beim Verfassungsschutz, Mitbeteiligung hochkrimineller, rechtsradikaler V-Männer an den Ereignissen, die nachträglich vom Verfassungsschutz gedeckt wurden, „versehentliche“ Vernichtung wichtiger Akten, verhinderte Ermittlungen in der Nazi-Szene, Druck auf die Angehörigen der Opfer, und Versuche, die Narration von ausländischer Kriminalität und Abrechnungen türkischer Drogenmafia durchzusetzen – aus diesem Netz entsteht im Stück ein allgemeines, atmosphärisch dichtes Bild vom Klima eines Landes, in dem der NSU entstehen, sich verbreiten und ungestört morden konnte.
Um das alles anschaulich und eindrucksvoll darzustellen, genügt im Ballhaus ein Bühnenbild aus Aktenseiten. Zum Teil hängen sie von der Decke, zum Teil liegen sie zerstreut auf dem Boden, von oben tropft auf sie in der Mitte des Raumes rote Flüssigkeit, die aussieht wie Blut. Drei Schauspieler:innen spielen mehrere Personen: über das Geschehen reflektierende, gut informierte Narratoren, Gerichtspersonal mit Staatsanwälten, Rechtsanwälten, Richtern, Zeugen, einen Polizisten, Vertreter der Familien der Opfer. Es gibt weitere Szenen mit verschiedenen Verfassungsschutz-Mitarbeitern, Augenzeugen, die im Verfahren nicht gehört wurden, türkischen Mitbürgern, die die Opfer kannten. Die nüchterne und trotzdem mit starken Bildern arbeitende Inszenierung wurde Anfang 2023 in einem Bericht des Tagesspiegel anerkennend besprochen: „Es ist ein Theater, das keine Effekte braucht, um Wirkung zu erzielen“ (Patrick Wildermann). Der brennende Ernst des Themas ist bis heute geblieben und wirkt so intensiv nach wie vor.
Es gibt dabei eine kleine Veränderung, die sich anzusprechen lohnt. Bei der Premiere wurde das Stück von Freya Kreutzkam, Lukas David Schmidt und Jules Armana gespielt. Da Rollenübernahmen in der freien Szene noch häufiger als bei festen Ensembles vorkommen, wurden die Partien von Jules Armana von Jonas Broxtermann übernommen. Somit werden alle Figuren, auch die der türkischen Mitbürger und Angehörigen der Opfer ausschließlich von deutschen Schauspieler:innen verkörpert. Alle drei spielen sie behutsam, mit innerem Facettenreichtum und gespürter Tiefe. Die Situationen, in die diese Menschen geraten sind, die Albträume der Realität, ihr Schmerz, Fassungslosigkeit und Versuche, Haltung und Würde zu bewahren, werden feinfühlig vermittelt und berühren. Es muss nicht immer falsch sein, jemanden zu repräsentieren. Wenn man es so macht, wie in dieser Inszenierung, ist es gerade richtig. Hinter der Darstellung spürt man eine klare Haltung: „Wir machen hier Euer Unglück zu unserer Sache“. Es ist sicherlich ein wichtiger Beitrag zu der allgemeinen Repräsentationsdebatte.
Ballhaus Prinzenallee ist auch ein guter Ort. „Remembering Afghanistan“ ist eine Inszenierung mit afghanischen Jugendlichen, die unter der Regie von Frishteh Sadati und mit Betreuung erfahrener Theaterpädagoginnen entstand. Es ist eine Geschichte über den Weg, den die jungen Leute zurückgelegt haben, um nach Deutschland zu kommen. Sie kamen auf Booten über das Mittelmeer, über grüne Grenzen, über einige Länder, mit mehreren Stationen. In kurzen, kaleidoskopischen Szenen werden Erinnerungen aus der freudigen Kindheit in Afghanistan dargestellt, dann Abschiede von Freunden, schwieriges Ausharren in der Türkei, illegale Grenzübertritte mit Schleusern. Angst und Spannung sind oft ganz stark spürbar, Tragödien wie: sich beim Rennen ums Leben zu verirren oder verlorenzugehen und sich plötzlich ganz allein, ohne Eltern wiederzufinden und nicht zu wissen, wohin; auch nirgendwo zurück gehen können – diese Geschichten gehen unter die Haut.
Auch die sparsam beleuchtete Bootsüberfahrt auf den überfüllten Booten ist zu erleben. Man spürt, dass dies nicht geschauspielert wird. Die Körper der Jugendlichen strahlen aus, woran sie sich erinnern. Es ist mutig, diese Erinnerungen zuzulassen, es ist mutig, von ihnen öffentlich zu erzählen. Auch hier drängt sich das Wort Behutsamkeit auf. Frishteh Sadati weiß, was in den Gruppenmitglieder hochkommt, auch sie kennt genau diese Erinnerungen. Aber für diese Gruppe ist es offensichtlich der richtige Weg, das Traumatische auszuleben, diese Erlebnisse hinter sich zu lassen, um in Deutschland besser anzukommen. Die Wahrhaftigkeit, die an diesem Abend überall sichtbar ist, ist trotz asketischer Raumgestaltung und darstellerischen Unzulänglichkeiten ein sehr starker Abend für das Publikum.
Ein Experiment anderer Art ist „Wohin“ in der Regie von Oliver Toktasch. Das Plakat ist hier irreführend: man stellt sich darauf ein, ein Stück von Hüseyin Alp Tahmez zu sehen, das über die Wahl des Fluchtlandes (Wunschländer wie Spain, UK, France, Germany sind durchgestrichen) und Erlebnisse auf dem Weg erzählt. Zwar steht gleich in der Programmankündigung, dass es in der Inszenierung eher darüber gehen wird, zu thematisieren, wie die in Deutschland lebenden Schauspieler:innen versuchen, sich den Erlebnissen der Flüchtlinge anzunähern, aber auch dazu fehlt auf der Bühne das Stück. Was man zu sehen bekommt, ist eine Mischung aus Szenenfragmenten, die über Flucht erzählen und kurzen, persönlichen Vorstellungen der Schauspieler:innen. Es kommt auch zum Schluss eine Musical-Szene vor, die vielleicht das traurige Thema zum „guten Ende“ bringen soll. Klar ist es nicht. Deutlich wird jedoch, dass es bestimmte Stücke, die nötig wären, noch gar nicht in Deutschland gibt, auch zu wenig Background für eine eigene Stückentwicklung. Wie tauscht man die Erfahrungen der Deutschen und der Neuankömmlinge aus? Wie kommt man sich wirklich nahe, um nicht in Klischees und Stereotypen verstrickt zu bleiben? Was könnte man miteinander teilen jenseits des gemeinsamen Alltags? Wie könnte eine gemeinsame Kultur aussehen? Auch dafür ist es gut, einen Ort wie Ballhaus Prinzenallee zu haben, um auf Defizite hinzuweisen, die Ausgangspunkte zu finden und noch nicht entdeckte Fragestellungen an Autor:innen und Regisseur:innen zu vermitteln, zum Neuen zu inspirieren. Es lohnt sich also bei der Prinzenallee 33 vorbeizuschauen und das Ballhaus Prinzenallee zu weiteren Anstrengungen anzuspornen, dem Haus das Recht zuzugestehen, zu glänzen aber auch bei manchen Projekten ohne Scheu zu verstolpern. Davon können nicht nur die an diesem kleinen Ort schaffenden, engagierten Künstler:innen einen Nutzen haben.