Die Welt hereinlassen
Eine Einmischung von außen zum Theatertreffen
Das Theatertreffen Berlin zieht die Aufmerksamkeit nicht nur im deutschsprachigen Kulturraum auf sich. Auch wir, die ausländischen Journalisten, schauen uns die Stücke und Veranstaltungen an und suchen dort nach gewichtigen Inspirationen und Anregungen, um sie über die Grenzen zu tragen. Ein Fazit kann natürlich erst nach dem Festival gezogen werden und für meinen Bericht nach Polen werde ich dies dann tun. Aber schon jetzt möchte ich mich an der deutschen Diskussion beteiligen, die wie jedes Jahr im Umfeld des TT stattfindet, öffentlich und privat.
Es zeichnet sich bereits ab, dass die Jury auch diesmal genügend wirklich bemerkenswerte Inszenierungen fand, die einen Überblick über das Spektrum und Möglichkeiten des Theaters in deutschsprachigen Ländern bieten. Es sind Arbeiten, die ein Lob verdient haben, und denjenigen, die sie kreiert haben und die sie spielen, gebührt Anerkennung. Der Platz dieser Stücke in der Theaterlandschaft ist mehr als berechtigt und er soll ihnen hier nicht streitig gemacht werden.
Obwohl das Theatertreffen noch lange nicht zu Ende ist, kann ich in diesem Jahr meine Enttäuschung bereits jetzt spüren. In der politischen und gesellschaftlichen Situation, in der wir uns heute in Europa befinden – in Polen spürt man sie alltäglich noch schmerzhafter als hier in Deutschland – scheint mir die gut gelöste Aufgabe, die zehn bemerkenswertesten Produktionen auszuwählen, einfach zu wenig zu sein. Die diesjährige Auswahl erweckt den Eindruck, einen Rückzugsraum zu bieten, um den Problemen da draußen kurz entfliehen zu können. Dafür sorgt beispielsweise die poetische Welt von „Girl from thr Fog Machine Factory“ und auch die drei Stunden des amüsanten „Tartuffe oder das Schwein der Weisen“ bieten gute Laune und sind bestenfalls ein „Persil“-Geständnis: ja, wir und haben uns selbst in diese schlimme Lage gebracht und stecken da jetzt drin.
Reicht dies? Ist es nicht eine Verkennung des Theaters, wenn man es auf eine solche Rolle reduziert? Das Theater kann viel mehr und das wissen die Juroren auch. Warum sonst würde „Die Nacht in Lissabon“ auf der Longlist stehen, die den politisch inzwischen so unliebsamen Themen von Emigranten und Flüchtlingen nicht ausweicht, auch an deutsche Emigrantengeschichten und deutsche Vergangenheit erinnert und Empathie weckt? Wäre es nicht wichtiger, gerade anhand eines solchen Stückes den menschlichen Umgang miteinander in schweren Zeiten zu beobachten, statt sich genau anzuschauen, wie unsere heutigen Geschlechterkämpfe in der gehobenen Mittelklasse aussehen? Sie wurden sicherlich in „Hotel Strindberg“ glänzend dargestellt.
Wäre es nicht dringlicher, mehr Raum der Problematik zu geben, wie sie in „Im Herzen der Gewalt“ zum Ausdruck kommt: Wie meidet man die Vorurteilsfalle, wenn man mit Ereignissen konfrontiert wird, die den Mustern entsprechen, auf denen diese Vorurteile beruhen? Diese Longlist-Inszenierung plädiert dafür, die Welt differenzierter anzusehen und mutet uns komplizierte, relevante Inhalte zu.
Das bisherige Begleitprogramm, das sich der Frage widmet, wie man Theaterstrukturen verändert, um eine demokratischere und transparentere Intendantenwahl zu ermöglichen oder wie das Theatersystem durchlässiger gemacht werden kann, inspiriert zu noch einer weiteren Überlegung. Könnte man das Auswahlverfahren der zehn Inszenierungen verändern? In Hinsicht auf Arbeiten von Regisseurinnen ist der Vorschlag einer 50%-Quote von Yvonne Büdenhölzer interessant und bringt das Theatertreffen sicherlich etwas weiter. In den nächsten Jahren könnte man aber vielleicht noch einen anderen Weg ausprobieren: die Jury wählt die Longlist-Inszenierungen (mit klaren Begründungen) aus, die letzten 10 daraus werden von 10 verschiedenen Gremien gewählt, je eine von beispielsweise Theaterkritiker*innen, Schauspieler*innen, People of Color, Frauen, Männern, Senior*innen, Theaterleiter*innen, LGBTI-Community, usw. Noch ein anderes Modell zum Ausprobieren wäre in Polen zu finden: zum Warschauer Theatertreffen werden nicht nur Produktionen der großen Häuser eingeladen, da auf die Provinz zu hören, kann sehr bereichernd sein. Sicherlich findet man weitere anregende Ansätze nicht nur in Europa.
Aber zurück zum Hauptprogramm, dem Herzstück für das Ausland. Das Theatertreffen läuft und vielleicht werden noch Inszenierungen kommen, die Eindrücke in diesem Kommentar revidieren lassen. Das Interesse für die Welt und das sozialpolitische Denken gehören zu den Stärken Deutschlands. Festzustellen, dass sie dem heutigen Theater zugunsten der hochartifiziellen Formen abhandengekommen sind, wäre unangenehm.
Erschienen auf: nachtkritik.de