Mythos auf dem Prüfstand

Wenn man aus polnischer Perspektive die deutsche Theaterlandschaft betrachtet, fällt auf, dass viele Inszenierungen derzeit einen Wunsch nach Veränderung der Gesellschaft artikulieren. Die Serie an „Volksfeind“-Inszenierungen in Berlin und Brandenburg in dieser Saison oder das Spielzeit-Motto im Maxim-Gorki-Theater „Aufstand proben“ gehen gezielt politische und soziale Themen an. Der Begriff der Revolution oder der des „kommenden Aufstands“ machen die Runde.

In Polen richtet sich die Frage nach gesellschaftlicher Veränderung aktuell stärker an die Vergangenheit als an die Zukunft. Polnische Theaterautoren widmen sich derzeit vermehrt einer revolutionären Situation, die ihren Ausgangspunkt vor gut 30 Jahren mit der Entstehung der „Solidarność“ nahm. Wie war es wirklich? Was ist Legende? Der Mythos Solidarność kommt auf den Prüfstand, interessanterweise vor allem an Bühnen außerhalb der Hauptstadt Warschau, die sonst als Trendsetter gilt.

Die starken Frauen der Solidarność

Bemerkenswert ist die feministische Neujustierung der Erzählungen über die „Solidarność“ in Abenden wie „Jak nie teraz to kiedy, jak nie my to kto?“ („Wann, wenn nicht jetzt, wer, wenn nicht wir?“) von Małgorzata Głuchowska in Krakau oder „Zrozumieć H.“ („H. verstehen“) von Paweł Palcat in Liegnitz. Sie fragen: Wo wird eigentlich an die Aktivistinnen der Solidarność erinnert?

Der Name von Anna Walentynowicz ist nicht gänzlich unbekannt (auch wenn der Film von Volker Schlöndorff „Strajk“, der ihre Geschichte erzählt, in Polen kaum beachtet wurde). In den letzten Jahren hörte die Öffentlichkeit von Walentynowicz allerdings – wenn überhaupt – nur als „diejenige, die etwas gegen Lech Wałęsa hatte“. Wer erinnert sich heute noch daran, dass die Entlassung der Kranführerin einer der wichtigsten Auslöser des Streiks in der Werft von Gdańsk war?

Ganz anders sieht es mit Henryka Krzywonos aus. Sie war im August 1980 die Tramführerin, die als erste bei der Nachricht über den Streik in der Danziger Werft ihre Tram stoppte, wodurch sie einen Solidaritätsstreik im öffentlichen Verkehr und in dessen Folge auch Streiks in vielen Betrieben der Stadt auslöste. Im weiteren Verlauf der Ereignisse waren es vier Frauen – Henryka Krzywonos, Anna Walentynowicz, Alina Piekarska und Ewa Ossowska –, die die Werftarbeiter davon abbrachten, auf das Versprechen einer Gehalterhöhung einzugehen und den Streik frühzeitig zu beenden. Sie überredeten sie stattdessen, sich mit den Streikenden in der Stadt zu solidarisieren und sie so vor Repressionen zu beschützen. Solidarność entwickelte sich zu einer allgemeinen, allmählich das ganze Land mitreißenden Bewegung.

Aktivistinnen ohne Gedenktafel

Wo gibt es heute Denkmäler für diese Frauen? Wo bleiben sie als Vorbilder und Identifikationsfiguren? Solche Fragen stellt die Krakauer Inszenierung „Jak nie teraz to kiedy, jak nie my to kto?“ („Wann, wenn nicht jetzt, wer, wenn nicht wir?“) in Regie von Małgorzata Głuchowska, mit Texten der Dramaturgin Justyna Lipko-Konieczna. Es ist eine Reise, die an die Wanderung von Alice im Wunderland denken lässt. Die junge Polin Lamia begibt sich in die Vergangenheit ihres Landes, wobei den Zeiten der Solidarność besonders viel Platz gewidmet wird. Lamia trifft hier auf Anna Walentynowicz und Henryka Krzywonos und lässt sich von ihnen die Ereignisse der 1980-er Jahre erzählen. Ihre zurückhaltende Darstellung des Geschehens wird von Wałęsa aus dem Hintergrund verspottet, da sie nicht der glanzvollen Helden-Story entspricht, die von „Lech“ und seinen mächtigen Männern als einzig angemessene für die Geschichtsschreibung gilt. Wer prahlt wird belohnt, die Bescheidenen werden schnell vergessen – die Kritik an der Verengung der historischen Erzählung auf die späteren Führer der Bewegung ist an diesem Abend deutlich vernehmbar.

In ähnlicher Weise entdeckt Paweł Palcat in Liegnitz mit „Zrozumieć H.“ („H. verstehen“) die starken Frauen der Solidarność neu. Im Zentrum stehen bei ihm die Lebensgeschichte der Henryka Krzywonos und ihre Verdienste bei der Entstehung der Gewerkschaft. Aber den Regisseur interessiert noch etwas anderes. In den späten 80er Jahren zieht sich Krzywonos aus privaten Gründen aus der Konspirationsarbeit zurück. Sie gründet zusammen mit ihrem zweiten Mann ein privates Kinderheim. Henryka will nicht länger tatenlos zusehen, wie die Schwächsten in der Gesellschaft den Umständen ausgeliefert sind.

Kaleidoskopisch, in kurzen Szenen, ohne Pathos und mit minimalistischen Mitteln erzählt die Aufführung auch darüber, wie eine unerwartete Erbschaft aus Kanada komplett für die Betreuung der Waisen verwandt wird und wie schwer für eine Frau mit Krebserkrankung die Arbeit mit den Kindern ist. Die Figur von Henryka K. wird auf drei Schauspielerinnen aufgeteilt. Nach seiner Intention gefragt, spricht der junge Regisseur von der Sehnsucht nach zwischenmenschlicher Solidarität, wie Krzywonos sie vorlebte, und vom Neid, selbst nicht in Zeiten zu leben, die solche Aufopferung abverlangen.

Danuta Wałęsa feiert die Rolle der Hausfrau

Dass nicht jede Theaterarbeit mit prägnanten Frauenköpfen sogleich am Mythos der Solidarność kratzt, wurde mit dem Monodrama „Danuta W.“ deutlich, in einer Kooperation von Bühnen in Warschau und Gdańsk. Das Stück erzählt die Ereignisse vor 30 Jahren auf Grundlage der Autobiografie „Marzenia i tajemnice“ („Träume und Geheimnisse“) von Danuta Wałęsa, Ehefrau des Leiters der Solidarność und späteren Präsidenten Polens Lech Wałęsa. Es gibt die Sicht einer Frau wieder, die diese Umbruchzeiten als Hausfrau erlebte und ihre neunköpfige Familie allein durchbringen musste, während ihr Mann „für die Sache kämpfte“.

Mit Krystyna Janda – Darstellerin in vielen Filmen von Andrzej Wajda – in der Hauptrolle war die Inszenierung schon vor der Premiere ein mediales Ereignis. Begeistert wurde sie von denen aufgenommen, die sich in der Behauptung bestätigt sehen konnten, dass die Frauen damals nur Helferinnen im Schatten der geschichtsträchtigen Kämpfer waren. Dagegen wurde die Inszenierung gerade von der jüngeren Generation für die neuerliche Einengung der Perspektive stark attackiert. Viele KritikerInnen hatten bereits Wałęsas Bestseller-Buch als küchen-philosophisches Gerede abgelehnt.

Julia Holewińskas Kritik an der Wende-Generation

Eine dezidiert junge Perspektive auf die Welt ihrer Eltern entwickelt Julia Holewińska in ihrem Stück „Rewolucja balonowa“ („Bubble Revolution“), das in Warschau uraufgeführt wurde. Die Autorin nimmt dabei nicht die Leitgestalten der Bewegung in den Fokus, sondern die Mitläufer der Solidarność-Welle, die in der Nach-Wende-Zeit schnell in Fallen des Kommerzes tappten. „War das alles nur wegen besserer Fernseher und Autos, nicht wegen der Freiheit?“, fragen die Kinder und ihre Eltern müssen sich harte Urteile gefallen lassen. Heute wie damals überlassen sie das Mitgestalten des demokratischen Lebens anderen.

In „Ciała obce“ („Fremde Körper“), das auf dem Stückemarkt des Berliner Theatertreffens 2012 präsentiert wurde und ein Jahr zuvor bereits den wichtigen Gdinger Dramatikerpreis erhalten hatte, greift Holewińska die Intoleranz in der Solidarność-Generation an. Das in der Regie von Kuba Kowalski in Gdańsk uraufgeführte Drama basiert auf einem außergewöhnlichen Einzelschicksal.

Sein Protagonist gehörte zu den Aktivisten der Solidarność-Zelle in Warschau. Nach der Wende unterzieht er sich einer Geschlechtsoperation. In dem nunmehr politisch freien Land strebt er nach seiner individuellen Freiheit. Doch seine ehemaligen Weggefährten verlassen ihn; sein Lebenswerk wird sogar aus dem Bewusstsein der engsten Freunde aus dem ehemaligen Untergrund getilgt. Auf der von einer DNA-Doppelhelix in polnischen Nationalfarben dominierten Bühne wechseln sich Szenen aus Vergangenheit und Gegenwart ab. Der mal als Adam, mal als Ewa auftretende Marek Tynda zeigt überzeugend, dass seine Figur sowohl in dem auf Religion und Freiheitskämpfen basierenden alten Polen, als auch in der mit grotesken Zügen ausgestatteten heutigen Realität ein Fremdkörper bleibt. Die Inszenierung ist ein starkes Statement gegen geschlechtsbezogene Ausgrenzungen und für liberale Lebensentwürfe.

Die inneren Widersprüche

Es geht in den neueren Theaterarbeiten also nicht nur um die Ausweitung der Perspektive auf die Solidarność, sondern auch um die Kennzeichnung von Spannungen und Widersprüchen. Die Problemgeschichte der Widerstandsbewegung kommt in den Blick. So auch in Orkiestra“ („Orchester“) von Krzysztof Konopka, das in Liegnitz von Jacek Głomb in Szene gesetzt wurde. Es ist ein großartiges Porträt der Oppositionsbewegung in der polnischen Provinz. Offen wird darüber berichtet, dass es abseits des Frontverlaufs zwischen Kommunisten und Opposition auch Konflikte innerhalb dieser Gruppierungen gab. Dramatisch gestaltet sich der Seitenwechsel eines Bergarbeiters, dessen Sohn 1982 bei einer verbotenen Demonstration von der ZOMO-Polizei getötet wurde. Nicht die Kommunisten, seine eigenen Kumpel trügen Schuld an seinem Unglück, behauptet der Vater.

Das Stück beschreibt ohne Verklärung die Geschichte eines Orchesters in Lubin (Niederschlesien), das aus Mitgliedern einer Brigade der Kupferförderung besteht, und verfolgt ihren Weg bis in die Gegenwart, in der die Grube privatisiert ist und der Begriff der Solidarität schrumpft. Gespielt wird am Ort des Geschehens in einem stillgelegten Teil des Bergbaubetriebes.

Eine konkurrierende Oppositionsbewegung zur Solidarność stellt die Gdańsker Inszenierung „Sprawa operacyjnego rozpoznania“ („Die Sache der operationellen Erkenntnis“) von Zbigniew Brzoza vor: Diese „Wolność i Pokój“ verfolgte, anders als die im Untergrund tätige Solidarność, eine Strategie des offenen Widerstands: Hungerstreiks, Sitzblockaden, in die Absurdität getriebene Demonstrationen oder Aktionen wie das Zurückschicken von Armeeausweisen als Protest gegen die allgemeine Wehrpflicht. Teile dieser aktionistischen Taktik von „Wolność i Pokój“ wurden nach der Wende von anderen Gruppierungen übernommen. Die von einem Veteranen der Bewegung inszenierte Collage, die sich zwischen Doku-Theater, Multimedia-Show und genau einstudierten, in der szenischen Form reduzierten, nachgestellten Happenings bewegt, leuchtet nicht nur in die Winkel abseits des Solidarność-Gedenkens. Die Theateraufführung ist auch ein Versuch, eine moderne Theatersprache für die Themen der Protestkultur unserer demokratischen Gegenwart zu finden.

Jenseits der Denkmal-Pflege

Im Ganzen weicht derzeit das eher huldvolle Gedenken an die revolutionäre Situation vor 30 Jahren einer vitaleren, vielgestaltigeren Gedächtnisarbeit. Wunderbar macht dies das Recherchestück  „Popiełuszko“ von Małgorzata Sikorska-Miszczuk deutlich, das bereits mit dem Gdinger Dramatikerpreis 2012 prämiert wurde und seine Uraufführung durch Paweł Łysak in Bydgoszcz erhielt.

Sikorska-Miszczuk setzt sich mutig mit einer der großen, noch nicht aufgearbeiteten Tragödien jener Tage auseinander. Es handelt vom Mord an dem katholischen Priester Jan Popiełuszko, der die Untergrundarbeit von Solidarność unterstützte und durch Mitarbeiter des SB, der polnischen Stasi, getötet wurde. Vieles an diesem Fall ist bis heute ungeklärt, auch die Rolle der katholischen Kirche. Sikorska-Miszczuk geht an die Grenzen, sie provoziert und schafft es, mit ihrer freien Rekonstruktion der letzten Stunden im Leben des Priesters ein starkes Bild dieser wichtigen Gestalt der Oppositionsbewegung zu kreieren. Durch groteske Szenen, in denen sich Vergangenheit und Gegenwart vermischen- so befindet sich im Kofferraum des Stasi-Autos außer dem entführten Priester die Figur des „Antipolen“, der Radio Maria hört, und dessen Frau vergeblich mit modernem Küchengerät kämpft- wird dabei der Ernst der Handlung unterlaufen und dem Pathos geschickt ausgewichen.

In den Erzählstrang der Autorin fließen verschiedene, sich widersprechende Sichtweisen und politische Haltungen ein. Dadurch gelingt ihr das Kunststück, die Frontverläufe zwischen Katholiken und Nicht-Gläubigen, zwischen Solidarność-Sympathisanten und Sozialisten, zwischen der Pro-Polen-Fraktion und den Pro-Europäern zu durchkreuzen. Dieser eindrucksvolle Abend, so spezifisch polnisch er auch ist, stellt die universelle Frage nach Freiheit und ihrem Wert im Leben des Einzelnen oder einer ganzen Gesellschaft. Er erschafft kein marmornes Denkmal für den Stadtpark, sondern ein pulsierendes historisches Bewusstsein.

Erschienen in: nachtkritik.de