Nur eine Rede
„David’s Formidable Speech on Europe” bei den Autorentheatertagen 2013 im Deutschen Theater Berlin
Das konnte eigentlich nicht gut gehen. Ein Theaterabend, gemacht von 12 Regisseuren aus 10 Ländern, mit 12 Schauspielern, die 7 verschiedene Sprachen sprechen. Die Ausgangvorlage der Inszenierung sollte kein Theaterstück, keine literarische oder im breiteren Sinn künstlerische Schrift bilden, sondern eine politische Rede, die der britische Premierminister David Cameron in Januar 2013 zum Thema Europa gehalten hatte. Politische Debatten sind bekanntlich auf dem Theater eine schwere Kost. Bei den vom Deutschen Theater Berlin organisierten Autorentheatertagen 2013 sollte diese Rede einem deutschen Publikum in aufeinanderfolgenden 12 Minidramen gleich 12 Mal aufgetischt werden. Damit nicht genug: Ein Teil der Beiträge sollte auf Englisch oder in den Landessprachen der Schauspieler erfolgen, die aus Theatern in Athen, Budapest, Berlin, Frankfurt, Düsseldorf, Salzburg, Zürich, Barcelona, Krakau, London, Stockholm und Kopenhagen gekommen waren. Das konnte nicht gut gehen – der heutige, belastbare und flexible Europäer ist zwar Vielfalt gewohnt, aber wie viel auf einmal kann selbst ein geübter Mensch in zwei Stunden vertragen?
Das Rednerpult ist für den kleinen Redner viel zu hoch und es hilft ihm nicht, seinen Hals zu strecken, sich auf die Zehenspitzen zu stellen, zu versuchen, das Brett oder das Mikro gewaltig herunterzudrücken. Der – ungarische - Redner, der Viktor Orbán nicht unähnlich sieht, gibt auf und versucht stattdessen, mit seiner lauten Stimme einen Ausgleich zu schaffen. Glühend lobt er Cameron und seine Ziele, bietet ihm an, gemeinsam aus der EU auszutreten und eine neue EU zu gründen, die auf einer anderen Basis - Christentum, nationalen Werten und maximalen Gewinnen für sich selbst - beruhen soll. Schon aber sind aus dem Publikum, geschickt eingebaut, kritische Stimmen zu hören, darunter auch wütende Vorwürfe gegenüber der ungarischen Regierung, die die EU-Menschenrechte missachte, gleichzeitig aber gern EU-Gelder kassiere. Gekonnt wird gezeigt, wie schwer es ist, die Balance zu finden zwischen berechtigter Kritik und Einmischung in die Politik eines mehrheitlich konservativen Landes. „Ich sollte doch David’s Rede halten, nicht eine Rede, so wie Ihr sie gern hören möchtet…“ mit diesen Worten verlässt der Schauspieler Lehel Kovács die Bühne.
Riesiger, stimmungsvoll bewölkter Himmel. Ruhe. Natur. So stellt man sich Schweden vor. Die „typisch schwedische“ Perspektive, aus der auf die EU geschaut wird, ist an diesem Abend eine Bereicherung des europäischen Blickwinkels. Es ist die Sicht eines Landes, in dem Behindertenrechte und deren praktische Umsetzung seit Langem weit entwickelt sind, viel weiter als im übrigen Europa. Der Beitrag stellt nicht nur Körperbehinderte in den Mittelpunkt. In einer szenischen Form, die zwischen Pantomime und beinah kabaretthafter, stark Tabus berührender, Komik pendelt und eine wortkarge Antwort auf Camerons Rede ist, wird ein tief ergreifendes, politisches Statement vermittelt. „Ich spreche heute zu Euch von den Straßen von Athen und Madrid …“ fängt der Redner an, der für alle Schwachen in der EU-Gesellschaft spricht und gegen gieriges, rücksichtsloses Ausbeuten durch die obere Schicht der Reichen und Finanzwelt-Akteure klare Position bezieht. Man ist mit ihm einverstanden. Viel später an diesem Abend denkt man verschämt an sein eigenes, unwillkürliches Lachen, als der Schauspieler Johan Holmberg, in spastischen Zuckungen gekrümmt, mühevoll versuchte, das Mikro zu ergattern. Aus eigener Kraft, allein, musste er seine nach Gerechtigkeit und „Gleiche für alle“ fordernde Stimme verlauten lassen. Wie schnell wir Gesunden mit ganz anderen Angelegenheiten beschäftigt sind, ist eine späte Reflexion des Abends.
Die Rede von Cameron, mit starker, selbstsicherer Stimme charismatisch gesprochen von Małgorzata Gałkowska alias Margit Thatcher, hätte dem Inhalt nach, tatsächlich von der eisernen Lady stammen können. Sie glaubte an die gleichen Prinzipien, an das Recht Großbritanniens auf mehr und an die Richtigkeit ihrer harten Maßnahmen. Mehr noch als Cameron duldete sie keinen Widerspruch, Konsens war nicht ihre Sache. Doch die eiserne Lady von Gałkowska entpuppte sich beim Verlassen der Bühne im Umdrehen plötzlich als verkleideter Charlie Chaplin. Gerade hier in Berlin muss man sofort an dessen großartige Darstellung einer anderen schwarzhaarigen, kleinen und große Reden schwingenden Figur der Weltgeschichte denken. So wurden die Vorschläge aus Großbritannien aus polnischer Sicht der Lächerlichkeit preisgegeben.
Es ist ungerecht, hier nicht alle Minidramen des Abends ausführlich zu besprechen. Fast alle hätten es verdient. Auch der dänische Beitrag, der David Cameron als einen größenwahnsinnigen und egozentrischen Star in die Pop-Musikbranche versetzt und die Konsequenzen seines Verhaltens bloßgestellt. Oder die auf einem bewegenden Einzelschicksal, in dem sich spanische und englische Familiengeschichte vermischen, beruhende Geschichte aus Barcelona. Oder der Versuch eines mit der Occupy-Bewegung vertrauten Frankfurters, alle im Theatersaal versammelten Zuschauer zu einer gemeinsamen Video-Botschaft an Cameron zu animieren, um ihn aufzurütteln. Auch aus Athen kam ein schöner Einfall: Theater erfahrene - schließlich aus dem Wiegeland des europäischen Theaters stammende – Yorgos Glastras konnte einem schnell klarmachen, warum es im Land Shakespeares irgendwann alles auf die Frage, „to be or not to be“ (hier: Mitgliedschaft in der EU) hinausläuft. Er klärte ebenfalls auf, dass schließlich auch das Show-Business angelsächsische Wurzel hat, weshalb der Cameron’s Auftritt durchaus auch in diesem Kontext betrachtet werden könnte.
Es ist erstaunlich, wie viel Inhalt in ein Minidrama (bis 9-minütige Länge, so die Absprache mit der Projektleitung) passen kann. Nicht wenige Veranstalter von Theater-Marathons könnten von diesem Abend, der vom Theaternetzwerk mitos 21, dem fünfzehn europäische Theaterinstitutionen angehören, getragen wurde, manches lernen. Dessen Botschaft war eindeutig: Europa, Herr Cameron, ist viel mehr als ökonomische Prosperity und Befriedigung individueller Interessen. Natürlich ist es schwierig, die Ziele von 27 EU-Mitgliedern aufeinander abzustimmen. Darüber und über viele Unzulänglichkeiten innerhalb der EU, über komplizierte Widersprüche, Haarspaltereien, Debatten, Abstimmungen und Absprachen erzählte wunderbar und humorvoll der Text von Sam Holcroft in einem anderen britischen Beitrag vom National Theatre aus London. Er endete mit der festen Überzeugung, dass eines Tages alle Richtlinien überflüssig sein werden, da sich jeder in Europa in einem gemeinsamen Satz wird wieder finden können: „Ich bin ein Europäer“. Diese Rede hätte man gern noch mal gelesen. Das Projekt zeigte überzeugend, dass es mit soviel künstlerischer Kreativität und theatralischem Können in der EU zukünftig nur noch gut gehen kann. Auf dem Theater jedenfalls ist es an diesem Abend schon gut gegangen.