Das Nirgendwo in Berlin
„Polen, das heißt nirgendwo“ wurde vor etwa hundert Jahren auf dem Theater behauptet. Diesem Satz konnte man damals kaum etwas entgegnen, da er historisch gesehen nicht mal unwahr war. Dass jedoch dieses nicht existierende Land einmal zur Heimat eines großartigen, modernen Theaters nicht nur im Stil von Alfred Jarry werden würde, könnte man aus heutiger Sicht als Fügung, Witz der Geschichte oder Unberechenbarkeit des Lebens bezeichnen. Gegenwärtig wird keiner sagen können, dass Polen unsichtbar ist oder dass dort keine Theaterlandschaft existiert. Ist man aber über das neueste polnische Theater wirklich auf dem Laufenden? In Polen entschied man sich für eine kluge Offensive. Die Kultur zur „Chefsache“ erklärend, wurde Polens halbjährige EU-Ratspräsidentschaft genutzt, um diesen immateriellen Schatz in Europa aktiv vorzustellen. Beim deutschen Nachbarn lief man dabei fast offene Türen ein, da dort das Interesse für das Land jenseits der Oder schon seit einer Weile gestiegen ist. Dies half Unterstützung bei dem Vorhaben zu bekommen und in der deutschen Hauptstadt den ganzen Herbst über ein umfangreiches, vielfältiges Polen-Programm zu präsentieren. Auch das Theater fand darin viel Platz und man darf es gleich verraten: Es stellte sich glänzend dar.
Der erste Impuls der deutschen Partner kam von der Akademie der Künste, die Anfang November mit „TheaterSlam“ ihren Beitrag zum polnischen Programm „Blickwechsel“ leistete. Da die Akademie keinen Spielbetrieb besitzt, ging es hier mehr um eine Darstellung von Kostproben des zeitgenössischen polnischen Sprechtheaters. Den Schwerpunkt bildeten Dramen der jüngeren und jungen Generation von Theaterautoren. So gab man dem deutschen Publikum die Möglichkeit, dieses Feld für sich zu entdecken und „reinzuschnuppern“, um vielleicht eine Überraschung zu finden. Auf entspannte Weise bot man an, in die Fremdheit des Nachbarlandes einzutauchen und einige Stunden unterhaltsam zu verbringen. Das Programm enthielt für jeden Geschmack etwas. In 30-minütigen szenischen Lesungen präsentierte man am Freitag Werke von Paweł Demirski, Michał Walczak, Dana Łukasińska und Radosław Paczocha und am Samstag von Artur Pałyga, Małgorzata Sikorska-Miszczuk, Antonina Grzegorzewska und Magda Fertacz. Einigen Zuschauern waren möglicherweise schon die Namen von M. Sikorska-Miszczuk (vom Berliner Theatertreffen 2011, von Theatern in Magdeburg, Wien und Wiesbaden), von P. Demirski (von der Berliner Volksbühne) und von M.Walczak (u.a. von Theatern in Essen, Wien, Heidelberg, Leipzig und Berlin) geläufig. Andere Dramatiker stellten sich in Deutschland zum ersten Mal vor. Die szenischen Lesungen gaben einen guten Einblick über die Vielfalt der Themen, die polnische Autoren umtreiben: Kritik der Kommerzialisierung der Kultur und ihrer Reduzierung auf belanglose, inhaltsleere Unterhaltung („Es war einmal Andrzej, Andrzej, Andrzej und Andrzej“ - Demirski), Konsequenzen, die sich für die Welt der Kinder ergeben, wenn die Welt der Erwachsenen nicht mehr funktioniert („Der letzte Papa“ - Walczak), Verstrickungen in einem totalitären System, die durch Fixierung auf Ruhm und Erfolg entstehen („Olga, eine charmante Frau“ - Łukasińska), Entblößung der Mechanismen in einer brutalen Männerwelt und Spiel mit der Tradition der amerikanischen Popkultur („Bar Babylon“ - Paczocha), Infragestellen des heutigen Indientourismus, das von der alten, spirituellen Faszination für das Land weit entfernt ist und oft zu dummer Esoterik und billiger Exotik verkümmert („Alle Arten des Todes“ - Pałyga), immer noch nicht abgeschlossene Verarbeitung des Holocaust und seine Auswirkungen auf die Nachkriegsgeneration („Der Koffer“ – Sikorska-Miszczuk), Krieg und gesellschaftliche Strukturen, die zum Opfern der Anderen führen, um selbst zu gewinnen, und wo Frauen häufiger als Männer ausgenutzt werden („Iphigenie“ - Grzegorzewska) und Bloßstellung der Verlogenheit der „zivilisierten“ westlichen Welt, für die alles zu Kaufware geworden ist, wo auch menschliche Freiheit oder Mitleid als Marktware dienen oder manipuliert werden kann, wenn es sich für die Reichen lohnt („Kalibans Tod“ - Fertacz). Der Vielfalt der Thematik folgten unterschiedliche Schreibarten und theatralische Formen, die ganz bewusst die in der polnischen Theaterlandschaft existierende Pluralität betonten.
Die weiteren Programmpunkte beider Abende erweiterten die kurzen Vorführungen durch interessante „show cases“, Selbstpräsentationen der Autoren, die Formen wie Lesen einer Geschichte, Dia-Show oder Mini-Drama nutzten. Besonders herrlich, mit bissiger Ironie war darunter eine kleine Performance von Magda Fertacz über den Alltag einer Schriftstellerin im heutigen Polen. Hinzu kamen moderierte Gespräche mit den Autoren und zur späten Stunde die Möglichkeit, ihnen privat eine eigene Geschichte zu erzählen. Als Zuhörer Geschichten vom deutschen Publikum zu bekommen, war ein Wunsch der polnischen Dramatiker. Ob sie dabei Impulse erhielten, die als Stoff für zukünftige Stücke taugen, bleibt eine spannende Frage. Dass deutsch-polnische Themen für die Autoren seit Längerem sehr reizvoll sind, beweisen sowohl schon existierende Stücke wie Fertacz’„Trash Story“ oder Sikorska-Miszczuks „Bürgermeister“, als auch Aussagen wie die von Artur Pałyga, der gestand, schon seit einiger Zeit zu überlegen, ein Stück über deutsche Besucher in Auschwitz zu schreiben. Würde er seine Idee verwirklichen, könnte es ein interessanter Gegenentwurf zu einem Film von Robert Thalheim werden, der sich diesem Thema aus deutscher Perspektive näherte.
Es ist festzustellen, dass diese gelungene Doppelveranstaltung das Vorhaben der Organisatoren sehr gut umsetzen konnte. Die gegebenen Impulse waren eindrucksvoll und man kann optimistisch sein, dass sie in Zukunft Früchte tragen werden.
Wer danach mehr Lust auf polnisches Theater bekam, brauchte nicht lange zu warten, und auch das im Theater am Halleschen Ufer gezeigte polnische Gastspiel vom Zbigniew-Raszewski-Theater-Institut aus Warschau war ein Erfolg. Eigentlich war dies zu erwarten gewesen, schließlich kam „Chór kobiet“ („Frauenchor“) als ein schon in Polen gefeiertes Theaterereignis, das als „Musiktheater-Inszenierung des Jahres 2010“ gekürt und auf mehreren internationalen Festivals präsentiert worden war. Die Bezeichnung „Musiktheater“ passt auf die Inszenierung von Marta Górnicka eigentlich kaum, da sie den Rahmen dieser Gattung völlig sprengt. Die Musikerin und Chorleiterin, die an die subversive Kraft des Chors glaubt, versammelte um sich 30 Frauen verschiedenen Alters und Berufes. Die so entstandene, in Jogging-Hosen und anderer Freizeitkleidung als Chor auftretende Frauen-Gruppe tauscht in lautem Sprechen Kochrezepte, Film- und Märchenerzählungen aus, um danach mit Textfetzen aus Werken von Roland Barthes, Simone de Beauvoir, Michel Foucault oder antiken Dramen gegen das Diktat der heutigen Schönheitsideale und klischeehafte Frauenrollen vorzugehen. Der Protest, der in klassischen Chor-Rhythmus rezitierend, flüsternd, schreiend, zischend oder mit Lachen vorgeführt wird, enthält neben den Sprechpassagen gesungene Fragmente von Kirchenmusik, Popsongs und Eigenkompositionen. Er setzt sich zu einer eindrucksvollen, von wütender Energie getragenen Performance zusammen. Nicht nur das in eine explosive Chor-Musik Verwandeln der Sprechtexte ist hier eine Neuerung. Auch feministische Inhalte, die keineswegs nur auf Polen zu beziehen sind (an deren Aktualität zu erinnern sich auch in Deutschland lohnen würde), sind eine große Stärke der Inszenierung. Übrigens war der Aufführungsort, das HAU 3, ein ehemaliger Theaterraum, in dem sich zu Westberliner Zeiten das polnische Teatr Kreatur befand, das um Andrzej Woron und einige frühere Mitglieder von Henryk Tomaszewskis Teatr Pantomimy aus Breslau herum entstanden war. Der Ort scheint seine guten Energien für Erfolge des polnischen Theaters beibehalten zu haben.
Einen weiteren Ausflug in die Welt der polnischen Theater-Experimente bot die Aufführung des Stückes „In der Einsamkeit der Baumwollfelder“ von Bernhard-Marie Koltès durch das Teatr Stefana Zeromskiego aus Kielce. Es ist diesmal eine „theater-goes-music“-Produktion, die wie der „Frauenchor“ nicht nur in Polen, sondern auch auf zahlreichen Festivals in den USA und Kanada mit Erfolg gezeigt wurde. Auch diese sehr radikale Inszenierung von Radosław Rychcik beschreitet neue Wege, drückt musikalische Wut aus und lotet ein spezifisches Ambiente als Theaterraum aus. Die Handlung der Aufführung ist im Stil eines Popmusik-Konzertes gestaltet und folgt einem zwielichtigen, nicht näher bestimmbaren Verkaufsgeschäft zwischen zwei Männern, die nur als Der Dealer und Der Kunde bezeichnet werden. Rychcik entdeckt unter der Oberfläche des Stückes eine Jean Genet-Schicht und hebt sie besonders hervor. Unter der gehobenen Eleganz des Verhaltens und der Dialoge öffnen sich sinnliche Abgründe, die die Welt der Oberflächlichkeit außer Kontrolle geraten lassen. Der Regisseur durchforscht den homosexuellen Plot, dringt auf radikale Weise in seine Finsternis und gefährliche oder dunkle Ecken ein. Er schickt seine zwei von einer Musikband begleiteten Schauspieler auf eine Reise in die Tiefe einer fremden Welt, in der das Wortgefecht zu einem Kräfte-Messen oder Überlebenskampf vor einem Sturz in Abgründe wird. Die Schauspieler werden zu Popstars auf einem Konzert gestylt, die Texte werden zu Fragmenten von Songs oder Protest-Hymnen, Worte richten sich nach Musik und Musik folgt den Worten. Wie bei „Frauenchor“ das Thema Feminismus so wird bei „In der Einsamkeit der Baumwollfelder“ das Thema der Homosexualität zum thematischen Zentrum. Beides ist in Deutschland zwar „nichts Neues“ und sicherlich nicht mehr provozierend, aber die Inszenierungen erinnern mittelbar, dass man sich diesen Themen im deutschen Theater kaum noch widmet, als ob diese Probleme nicht mehr existierten würden oder an Bedeutung verloren hätten. So bringt das polnische Theater nicht nur neue Inszenierungsideen mit sich, sondern gibt einen Impuls zu hinterfragen, ob bestimmte thematisch wichtige Bereiche im deutschen Theater nicht aus den Augen verloren wurden. Übrigens, es fällt auch auf, dass die Stücke von B.-M. Koltès seit seinem Tod auf den deutschen Bühnen kaum noch gespielt werden – ein großer Verlust.
Den Abschluss der polnischen Theaterreihe bildete ein in Rahmen der Veranstaltungsreihe der Berliner Festspiele „Spielzeit Europa“ gezeigtes Gastspiel von Teatr Polski aus Breslau mit „Wolokolamsker Chaussee“ von Heiner Müller. Auch diese Inszenierung von Barbara Wysocka besitzt einen musikalischen Ansatz und auch sie gehörte in Polen zu den besten Aufführungen der Spielzeit 2010/11. Müllers „Wolokolamsker Chaussee“ setzt sich mit den Zeiten des Zweiten Weltkriegs und einigen Ereignissen aus der DDR-Geschichte auseinander. Obwohl heute einige der fünf Szenen des Stückes an ihrer Kraft, die aus einer scharfen politischen Kritik kam, verloren haben, seitdem es die DDR nicht mehr gibt, gelingt es der Regisseurin durch ihren auf die Beobachtung der Verwicklung des Menschen in die Geschichte und in ein politisches System konzentrierten Blick die Zuschauer für alle fünf Teile des Dramas zu interessieren. Am stärksten ist die Inszenierung in den beiden ersten, auf den Zweiten Weltkrieg bezogenen Teilen, wo Wysocka den Text von Heiner Müller gleichzeitig auf mehreren Zeitebenen, die Sicht von heute inbegriffen, auf eine sehr spannende Weise theatralisch umsetzt. Der Regisseurin gelingt es, die Geschichte durch Videos und einen bekannten, von Joan Baez gesungenen Song, um eine Frauenperspektive zu ergänzen und einem Protest gegen Kriege Ausdruck zu geben. Die künstlerische Methode, Haltungen oder zusätzliche Realitäten über musikalische Mittel auf die Bühne zu bringen, gehört zu den wichtigen Elementen aus der Werkstatt der jungen Theatermacherin, die zweifellos zu den wichtigsten Stimmen im polnischen Theater gehört.
Aus kulturpolitischer Sicht betrachtet, wurden die Veranstaltungen über das polnische Theater organisatorisch von Institutionen des Bundes – der Akademie der Künste und den Berliner Festspielen – gestaltet und durch Projekte weiterer Veranstalter ergänzt. Da sich in gleicher Zeit das 20-jährige Jubiläum der Städtepartnerschaft Berlin-Warschau jährte, bereicherten auch die Berliner Einrichtungen das Programm. Das Theater am Halleschen Ufer war nicht zum ersten Mal als Unterstützer für polnische Projekte leicht zu gewinnen, schon in der Vergangenheit spielte es in dieser Hinsicht durch Events wie das „Polski Express“- Festival eine Vorreiterrolle. Großes Lob gilt auch dem Mut vom „Heimathafen Neukölln“, der seine Türen für das radikale Theaterwerk aus Kielce geöffnet hat. Schließlich bleibt auch noch festzustellen, welche enorme Arbeit das Polnische Institut Berlin in die Entwicklung und Mitbegleitung der Theaterereignisse gesteckt, während es gleichzeitig viele andere Veranstaltungen zum „polnischen Herbst“ betreut hat. Manchmal hatte man das Gefühl, dass sich das berühmte „Nirgendwo“ von Alfred Jarry in diesen Tagen gerade in Berlin befand.
Erschienen in MOE-Kultur-Newsletter, Ausgabe 80