Ein Leben im Stau

„Warteraum Zukunft“ von Oliver Kluck im Deutschen Theater Berlin

 

Man sieht überall nur Pappkartons. Mal sind sie zu einer Wand gestapelt, die die Inneneinsicht versperrt, mal zu Wänden, die einen oder auch mehrere Innenräume bilden, manchmal wird ein Teil der Kartons zum Möblieren des Raumes verwendet. Willkommen in der Welt moderner Nomaden. Daniel Putkammer ist einer von ihnen. „Ich bin schon vier Jahre in der Stadt und kenne nur Zubringer, Tankstellen und Kreuzungen“ erklärt er am Anfang. Daniel spricht freundlich, belächelt die Situation, ist mit ihr nicht unzufrieden. Warum sollte es anders sein? Daniel Putkammer gehört zu den wenigen seiner Generation, die sich glücklich nennen dürfen. Begabt, promoviert mit 28, dank eines Firmenpraktikums während des Studiums, hatte er in derselben einen echten Arbeitsplatz bekommen. Daniel ist also erfolgreich und er macht auch alles richtig: sein Aussehen ist sehr gepflegt, seine elegante Kleidung konservativ und teuer. Er hält sich auch immer an seine Mantra: „freundlich sein, grüßen, lächeln, nachfragen, zuhören…“ Es gibt da natürlich kleine Risse im Glück, Anne, die Freundin, ist abgehauen. Aber alles kann ja nie stimmen.

Es ist herrlich, die Welt des Büros von Daniel zu erleben. Oliver Kluck hat einen guten Blick für Menschentypen und für die Vorgänge in diesem Kleinkosmos. Man glaubt mitten drin zu sein, und sollte man vielleicht selbst einen solchen Alltag kennen, kann man sich immer wieder wundern, warum man bis jetzt so Manches etwas anders sah. Und doch, auch wenn Daniel es keineswegs so erzählt, sieht man es schnell: sein Berufsleben, was mit seinem Leben gleichzusetzen ist, dürfte von dem, was man als Glück bezeichnen würde, weit entfernt sein. Die Mitarbeiter stöhnen unter Zeit- und Arbeitsdruck, strenge Maßnahmen zur „Rettung der Firma“ – der es im Übrigen so schlecht nicht zu gehen scheint – können jederzeit eingeführt werden. Dazu gehören Urlaubssperre, Ausfall von freien Wochenenden. Viele Angestellte der Firma essen zu Mittag in der benachbarten Mensa, was über die Höhe ihrer Gehälter zu denken gibt. Nicht, dass die Mitarbeiter passive, dümmliche Masse wären, die ineffizient arbeitet und der an Kreativität fehlt. Bei einem Personaltreffen machen sie konstruktive Vorschläge, wie die Einstellung neuer Mitarbeiter für die Bewältigung der Arbeit helfen würde. Bei dem Chef kommen sie damit aber nicht durch. „Menschen sind teuer, sie ruinieren die Firma“ ist sein sicheres Urteil über die Lage und sein letztes Wort. Dagegen lässt sich wirklich nichts mehr sagen, oder?

Also, den schon gebuchten und ohne Rücktrittsversicherung bezahlten Urlaub kann Daniel als seinen Beitrag zu Rettung der Firma verbuchen. Dafür hat er einen Termin beim Chef. Endlich! Daniel vermutet richtig, dass es um eine Beförderung gehen kann. Er hat lange darauf gewartet. Und er ist gerüstet. Aufpassen, damit man nicht nur noch mehr Pflichten und mehr Verantwortung bekommt, ohne dafür einen finanziellen Ausgleich zu erhalten. Das lässt er mit sich doch nicht machen!

Das Gespräch beim Chef entwickelt sich positiv. Es ist eine Beförderung. Daniel Putkammer wird Leiter der Engineering-Abteilung. Fantastisch. Aber… was wird mit dem jetzigen Leiter dieser Abteilung Herrn H. geschehen? Ach, der bleibt selbstverständlich weiter auf seinen Posten. Sein Posten steht hier nicht zu Debatte. Daniel Putkammer wird Leiter der Engineering-Abteilung der Firma in Rumänien! Überflüssig zu sagen, dass er keine Wahl hat. Der bis morgen zu unterschreibende Vertrag soll bei der Sekretärin abgegeben werden.

Was bleibt, ist, den Tag als einen doppelt-dreifach-zehnfachen Scheißtag abzuschreiben und sich beispielsweise darüber zu freuen, dass man es auf dem Nachhauseweg in einem bereits schließenden Supermarkt gerade noch schafft, überteuerte Lebensmittelreste zum Abendbrot einzukaufen.

Aber allein am Abend in der leeren Wohnung zu sitzen, man ist erst 30, ist auch nicht das Wahre. Daniel lässt sich zum Freund Stefan und seiner jungen Familie locken, dann nach Zögern auch zu Geburtstagparty bei ihren Nachbarn. Bis alles aus dem Lot gerät.

In der letzten Szene der Inszenierung von Simon Solberg sagt eine Straßenpassantin: „Ich bin schon vier Jahre in der Stadt und kenne nur Zubringer, Tankstellen und Kreuzungen“. Das ist ein runder Abschluss. Daniel Putkammer steht für einen – wohlbetont glücklicheren – Teil der jungen und begabten Akademiker, die ihren Platz in einer Arbeitswelt anzunehmen versuchen, die selbst inzwischen zu einer Parodie, einem grausamen Auswuchs, geworden ist. Die Berufsanfänger (aber nicht nur sie) leiden unter existierenden Zuständen, sie sind sich deren bewusst, dank Intelligenz und guter Ausbildung können sie sogar die Zusammenhänge durchschauen und die Folgen nachvollziehen. Trotzdem, sie bleiben passiv. Sie lassen sich treiben oder hängen, wohin sie geraten sind. Ihre Devise heißt Abwarten, nicht: sich Auflehnen, Versuchen etwas zu verändern, nach Auswegen suchen. Sie hoffen einfach, dass sich irgendwann demnächst alles von allein ergibt, so dass man vom Warteraum mit einem Sprung in eine glänzende Zukunft wechseln wird.

Oliver Kluck hat ein amüsantes, vielschichtiges und auf eine subtile Weise sozialkritisches Stück geschrieben. Es bietet neben der Bestandsaufnahme der Lage der jungen, gut ausgebildeten Akademiker auch eine Studie der heutigen Form von zwischenmenschlichen Beziehungen. Es lässt die Problematik des moralischen Handelns nicht aus und leistet zusätzlich einen Diskussionsbeitrag über die Zukunft der westlichen Arbeitswelt. Sitzt man in Deutschland immer noch auf der Sonnenseite des Lebens? Oder ist inzwischen etwas ganz falsch gelaufen?

Aus dem großen Potenzial des Textes von Kluck hat der Regisseur Simon Solberg das unerbittlich bissig Witzige herausgeholt. In einer sehr genauen Arbeit, die über tausende detailliert und phantasiereich erfundene Situationen einfach nur staunen lässt, ist ihm das fast Unmögliche glänzend gelungen: „zig“ Personen auf drei Darsteller zu verteilen, die Geschichte schlüssig darzustellen und zum Genus für Zuschauer zu gestalten. Die Arbeit wird sehr gut durch die Kostüme unterstützt, so dass man oft kaum den Augen glaubt und sich im Programmzettel vergewissern muss, dass es wirklich neben Daniel-Darsteller Ole Lagerpusch nur noch zwei andere Schauspieler (Claudia Eisinger und Elias Arens) auf der Bühne stehen. Sie werden zur Unkenntlichkeit verkleidet (und das häufig innerhalb von 2–3 Minuten).

Die schauspielerische Leistung der drei Darsteller ist großartig. Die Vielfalt der von Kluck vorgegebenen Persönlichkeiten, von ruhigen, einfältigen oder langweiligen Durchschnittsbürger bis zu durchgeknallten Partylöwen, von jungen zu mittelalten Figuren, jeder Typ wird glänzend umgesetzt, kommt sofort wie gerufen.

Auf das nächste Stück von Oliver Kluck darf man gespannt sein, genauso wie auf die nächsten Theaterarbeiten und – auftritte der beteiligten anderen Künstler. Man braucht aber nicht auf die Zukunft zu warten, bis dahin ist der „Warteraum Zukunft“ sehr zu empfehlen, auch zum wiederholten Anschauen.

Erschienen in MOE-Kultur-Newsletter, Ausgabe 75