Von Wrocław nach Manhattan

Piotr Siemion „Picknick am Ende der Nacht“

Es ist kein Buch, das man jedem empfehlen kann. Keines, das auf den Bestseller-Listen ganz oben stehen würde. Und es ist wahrscheinlich auch kein Buch, das viele Leser als ihr Lieblingsbuch bezeichnen würden. Und trotzdem, in der polnischen Literaturlandschaft ist dieses Buch wichtig, da es bis heute kaum Romane gibt, die Schicksale einer ganzen Generation der Polen (geboren in den 60er Jahren) festhalten. Dieses Buch ist auch interessant für Nicht-Polen, die etwas Genaueres über das Alltagsleben der etwa 20-jährigen in Polens Großstadt Wroclaw vor 1989 erfahren wollen und die gern die verkürzte, verallgemeinernde, allumfassende Floskel: „dort war alles verboten, dort herrschte Kommunismus“ gegen Eindrücke mit deutlichen Konturen, die fiktiv-wahre, vielleicht sogar autobiografische Bilder bieten, austauschen wollen. Weiter ist dieses Buch interessant für alle Leser – Polen und Nicht-Polen – die sich für Schicksale von vielen jungen Polen interessieren, die Mitte der 80er Jahre dank gelockerter Passformalitäten endlich ins Ausland ausreisen konnten. Viele von diesen damaligen Vagabunden versuchten erfolglos dauerhaft im Ausland Fuß zu fassen, viele von ihnen kehrten nach 1989 nach Polen zurück. Neben den Schicksalen einiger junger Leute zeichnet Siemion ein allgemeineres Bild des großen Umbruchs. Seine Auswirkungen auf den Alltag und die Versuche, sich an die neue Realität anzupassen, werden interessant in Schnappschüssen und mit einem humor- und ironievollen, kritischen Blick vermittelt. Auf ihre Kosten kommen auch diejenigen, die für ein anderes Thema, das des Lebens von Filmemachern, etwas übrig haben. Diese Geschichte berührt aber nur sehr am Rande den polnischen Kontext. Um jedoch nach der Aufzählung von so vielen interessanten Inhalten keine zu großen oder auch falschen Erwartungen zu wecken, ist es wichtig zu sagen, dass das Buch keine umfassende Darstellung der polnischen Realität vor und nach 1989, keine tiefer gehende Analyse dieser Zeiten ist. Siemion versucht ein Wechselspiel zwischen allgemeineren Darstellungen und Unterhaltung und oft setzt sich die Unterhaltung durch. Die Reflexion bleibt auf der Strecke und die Geschichte zeigt nur eine Oberfläche, die auf viele Erfahrungen und tiefere Einsichten verweist, bringt sie aber nirgendwo richtig zur Sprache.

Die Geschichte ist glänzend konstruiert, fängt spannungsbeladen an. Ein Mann rettet sich mit großer Mühe aus einem Fluss. Es ist die Oder. Es ist zwar Sommer, aber es ist mitten in der Nacht und der Schwimmer badet voll bekleidet. Er badet nicht freiwillig. Von fremden Männern auf einer Brücke angegriffen, wird er ins Wasser geworfen, ehe er sich versieht. Beim Schwimmen verliert er seinen Pass und seine Wohnungsschlüssel. Er ist Engländer und es ist, 1983, gerade sein erster Tag in Wroclaw, wohin er wegen einer Theaterhospitanz für einige Monate gekommen ist. Der junge Engländer wird noch in derselben Nacht eine Gruppe junger Polen treffen und sie werden ihm während seines Aufenthalts in der Stadt ans Herz wachsen. Der „Engländer“ (er hat als einziger im Buch keinen Namen) wird ein paar Jahre später einige dieser polnischen Bekannten in New York wiedertreffen, wohin auch ihn das Schicksal verschlagen hat. Nicht zuletzt wegen ihnen (insbesondere einer von ihnen) wird er 10 Jahre nach dem ersten Wroclaw-Besuch in die Stadt zurückkehren, um wieder, wie beim ersten Mal, unerwartet in kalten und trüben Oder-Gewässern zu landen. Diesmal zusammen mit zwei seiner anstrengenden, nicht immer fairen und doch so lieb gewonnenen polnischen Altbekannten.

Zwischen dem ersten und dem zweiten ekligen Oderbad liegen 10 Jahre, in denen das Leben in Polen grundlegenden Veränderungen unterzogen wurde. Da das Leben manchmal unberechenbar verläuft: bekommt die Generation der in den 60ern in Polen Geborenen eine reale Möglichkeit, zu erfahren, was passiert, wenn die Träume doch in Erfüllung gehen. Mitte der 80er Jahre werden die Ausreisebestimmungen gelockert, wer will, darf raus. Viele ergreifen diese Chance, auch einige von Siemions Helden. Sie erreichen westeuropäische Länder, Kanada oder die USA, um sich dort nach einer Weile zu fragen, wie geht es nach dieser ersten Hürde weiter? Siemions Wroclawer wollen nach New York, können aber nur ein Visum nach Kanada oder Mexiko bekommen. Ob man sich damit arrangiert oder über die Grenze illegal nach N.Y. gelangt, wird unterschiedlich gelöst. Wer nirgendwo ein Visum bekommt, versucht es mit einem Vertrag z. B. auf einem ausländischen Kreuzfahrtschiff. Als Bedienung, Bauarbeiter, Zigarettenschmuggler und nicht zuletzt als Prostituierte machen die Polen die Erfahrung, dass es für sie nicht weiter geht. Ob nicht legalisierte Aufenthaltsverhältnisse, karge Sprachfähigkeiten, unzureichende Fachfähigkeiten, es sind unterschiedliche Gründe, die sie hindern, Fuß zu fassen oder sich zumindest eine Perspektive auf lange Sicht zu schaffen. Das ist ihre neue Lage nicht im sozialistischen Polen, sondern in dieser an sich an Perspektiven- und Chancen so reichen kapitalistischen Welt. Die Welt-Lethargie hat man ja bereits hinter sich gelassen, man befindet sich, wie es eine der Protagonistinnen, Lidka, sagt, „in Bewegung“, landet aber auf einer noch niedrigeren Stufe der Existenz als vorher zu Hause in Polen. Und man kommt nicht weiter. Es ist nicht leicht, sich das einzugestehen und die Konsequenzen daraus zu ziehen. Für die meisten gibt es nur eine einzige vernünftige Lösung: zurückzugehen.

Es ist etwas schade, dass Siemion bei der Darstellung der Sich-über-Wasser-halten-Existenz seiner Helden in Amerika Action-Bilder bevorzugt. Das macht vielleicht diesen Teil des Buches leichter lesbar und amüsanter, es macht ihn aber gleichzeitig fiktiver und banal. Eine ganze Palette von Erfahrungen einer Gruppe von Menschen wird dadurch nur sehr oberflächlich und sicherlich teilweise verzerrt dargestellt. Da man sonst über diese Übergangs- oder Versuchsexilanten nur wenig weiß - ihre Erfahrungen und Erlebnisse wurden bisher kaum festgehalten - ist dies ein doppelter Verlust. Mit seiner Entscheidung, die Spannung in den Mittelpunkt zu stellen, verliert der Autor (was ihm im ersten Teil, in Polen nicht passiert) viel an Genauigkeit und Glaubwürdigkeit. Drogen-Spritzen unter erfolgreichen Bankmanagern sorgen vielleicht kurzweilig für Unterhaltung, sind aber eher abwegige Vorstellungen. Dasselbe lässt sich über die Fähigkeit derselben sagen, auch unter Alkohol- und Drogeneinfluss Schwert- und Messer-Kampfarten präzise zu beherrschen. Die Beschreibungen von Party-Exzessen, Porno-Szenen, Häuserexplosionen und Kampf- und Fluchtszenen, die es sonst im Überdruss in etlichen Action-Büchern gibt, helfen hier dem Leser nicht weiter und es ist nicht ganz klar, warum der Autor diesen Weg wählt und auf einer Oberfläche, die nicht mal ihre eigene Originalität hat, bleibt.

Zu den schönen Motiven des Buches gehört dagegen die Geschichte des „Engländers“, der von Polen nicht loskommt, den es auch nach allen Schwierigkeiten, unüberbrückbaren Hindernissen (z.B. polnische Sprache!), Unannehmlichkeiten, Enttäuschungen und Unbequemlichkeiten wieder dorthin zieht und der vielleicht – es bleibt offen – für immer sich in diesem komischen Land, jetzt in neuen Zeiten der 90er Jahre, einrichten wird. Siemion findet gute Bilder für die Beschreibung des Lebens der dem „Engländer“ Gleichaltrigen in Polen der 80er Jahre. Nach der langsamen Lockerung des Kriegszustandes kehren Apathie und auch Anarchie ein. Vodka-Partys (für die zuerst Hühner geklaut werden – Fleisch in Läden gibt es nur gegen Kupons), Besuch verbotener Konzerte an geheimen Orten (z.B. einer Stauanlage an der Oder, wo beim Musizieren mehrere Duzend Leute an einem herumgereichten Joint ziehen), Nachtschwimmen in privaten Pools (nachdem man zuerst in den Garten einer Villa einbricht) – das alles wird den „Engländer“ nicht mehr loslassen, auch nicht, nachdem diese Welt verschwindet. Schön ist die Beschreibung der Freundschaft und Verbundenheit unter den Wrocławern und ihre Einsicht, dass auch bei unterschiedlichen Lebenswegen alte Nähe und Vertrautheit eine gute Stütze im Leben sind. Auch die indirekt gezeigte Liebe und Verbundenheit im Guten und Schlechten mit dem Ort „wo man bei sich zu Hause ist“, so Lidka, ist eine Liebeserklärung an Wrocław.

Es ist dem Autor auch gut gelungen, nicht nur die Atmosphäre der 80er Jahre sondern auch die spätere Stimmung des Aufbruchs Anfang der 90er Jahre rüberzubringen.

Man darf auf weitere Bücher von Siemion gespannt sein, wenn er neben seiner Arbeit als Jurist und Übersetzer mal wieder dazu kommen sollte, sich erneut literarisch zu melden. Es wäre schön, wenn er sich dann dem Thema der Polen in den USA (oder nur in N.Y.) annehmen würde. Und es wäre ein großer Gewinn, von ihm eine Darstellung, die dichter an den echten Erfahrungen vieler Emigranten-auf-Probe bleibt, zu bekommen. Da sich der Autor ja selbst eine Existenz in N.Y. aufgebaut hat, würde es ihm sicherlich an wertvollen Beobachtungen und wahrhaftigen Geschichten über seine Landsleute nicht fehlen. Es würde sich bestimmt auch viel Interessantes finden, was vielleicht ein anderes Bild ergeben würde, als nur das altbekannte Klischee über „Putzfrauen, Huren und Bauarbeiter“.

Aber ebenso spannend kann man sich ein Buch vorstellen, das die „Picknick“-Geschichte in Wroclaw Ende der 90er Jahre fortschreibt. Auch dafür dürfte der Autor einen guten Blick und viele spannende Geschichten im Gepäck gesammelt haben. Auch über Wroclaw um 2000 findet sich in der Literatur wenig, obwohl die Stadt inzwischen zu den sich am dynamischsten entwickelnden in Polen gehört und sicherlich mit vielen spezifischen Konflikten und Phänomenen gefüllt ist.

Für seine eventuellen Vorhaben könnte man Siemion den Mut wünschen, bei seinen Dialogen mehr Vertrauen in deren Tragkraft und Denkinhalte zu entwickeln. Seine Protagonisten fangen nicht selten mit interessanten Aussagen und Reflexionen an, wechseln aber leider schnell zum lächerlichen Bla-Bla-Quatsch, als ob ihr Erschaffer nicht glauben würde, sie hätten wirklich etwas zu sagen. Mit dieser Eigenschaft werden übrigens nicht nur die Polen von Siemion ausgestattet, auch der „Engländer“, seine nichtpolnischen Bekannten, Wissenschaftler aus Frankreich, Filmmanager aus den USA und Großbritanien und andere. Es wäre interessanter, diese Leute nicht nur eindimensional in ihrer Unzulänglichkeit, sondern auch in ihrer Ernsthaftigkeit zu präsentieren. Das würde die Bücher von Siemion sicherlich weiter bereichern.

Erschienen in MOE-Kultur-Newsletter, Ausgabe 55

Piotr Siemion, Picknick am Ende der Nacht, Verlag Volk und Welt, 2000