Zauberberg auf Polnisch

der neue Roman von Paweł Huelle „Castorp“

„Castorp“ von Pawel Huelle ist ein bemerkenswertes Buch. Es liest sich leicht, ohne Anstrengung. Vielleicht kommt man in die Geschichte so schnell hinein, weil man den Helden des Buches sehr gut kennt. Ja, er ist es in der Tat: Hans Castorp, die Hauptfigur aus dem „Zauberberg“ von Thomas Mann. Wie kommt diese deutsche Literaturschöpfung in ein Buch eines polnischen Schriftstellers aus Gdansk? Und wie kommt Huelle auf die Idee, Hans Castorp nach Danzig zu holen? Auch in Polen gehörte der „Zauberberg“ schon immer zu den wichtigsten Klassikern der Literatur, auch in Polen wurde das Buch sorgfältig gelesen. Über das Leben von Castorp, bevor er nach Davos kommt, gibt Th. Mann dem Leser eher spärliche Informationen. Er schreibt über die Herkunft und Kindheit Castorps, vom frühem Tod der Eltern und dem Aufwachsen bei Großvater und Onkel Tienappel. Das Ingenieurstudium wird ebenfalls erwähnt, aber nicht genauer beschrieben. Mann arbeitet mit Bruchinformationen, Andeutungen, Hinweisen. Dies setzt die Phantasie des Lesers frei, er kann sich über die Jugend von Castorp ein eigenes Bild machen.
Auch der Leser des „Zauberbergs“ Huelle geht diesen Weg. Er findet bei Mann den Hinweis, Castorp habe „vier Semester Studienzeit am Danziger Polytechnikum“ verbracht und baut diesen Hinweis zu einem Roman aus.

Wir begegnen Hans Castorp in Hamburg, wo er dem erstaunten Konsul Tienappel seinen Beschluß, in Danzig studieren zu wollen, verkündigt. Wir leisten ihm Gesellschaft auf dem Schiff „Merkur“, mit dem er nach Danzig fährt. Wir lernen mit ihm die Stadt kennen, auch die deutsch-polnische Bevölkerung und ihre Lebensweisen, das Studentendasein am Polytechnikum, den nahe gelegenen Kurort Zoppot mit seinen Sommer- und Kurgästen, und schließlich treffen wir eine unbekannte Schönheit, die Castorps Aufmerksamkeit für lange Zeit auf sich zieht.

P. Huelle macht es sich mit seinem Einfall, Castorp noch einmal zum Leben zu erwecken, nicht leicht. Er stellt sich der Aufgabe und versucht, den Ton des „Zauberbergs“ zu treffen. Deshalb die vielen Beschreibungen, deshalb gibt es Platz für Reflexionen über das Leben, über Zeit und Tod, über Ost und West. Auch Castorps Verhalten, Distanz zu dem bereits Erlebten zu bewahren, wird beachtet. Dieser sensible Umgang mit der Mannschen Vorlage wird belohnt; jetzt kann Huelle von Ideen des deutschen Schriftstellers profitieren. Thomas Mann beschreibt glanzvoll die Psyche seines Helden. Er bringt sie dem Leser nahe, obwohl die psychische Verfassung von Castorp alles andere als vertändlich ist. Wer Castorp kennt, ist an seine Eigenarten gewohnt, sein Verhalten muss nicht erklärt werden. Es überrascht deshalb nicht, dass auch bei Huelle der junge Student weder Nähe zu Studienkameraden noch zu Frauen sucht, er knüpft keine Freundschaften. Er zieht es vor, allein zu sein und über einen Detektiv Informationen über die schöne Polin zu sammeln und alles darauf zu setzen, sie in Zoppot unbeobachtet zu begleiten. Dabei bringt ihn nicht einmal die häufige Begleitung der Angebeteten, die mit einem russischen Offizier heimlich liiert ist, aus der Fassung. Es wundert nicht, dass Castorp – wenn sich die Möglichkeit anbietet, die schöne Polin Pilecka persönlich kennen zu lernen – die Chance nicht ergreift. Zuviel Nähe, der Leser des „Zauberbergs“ weiß es, ist nicht seine Welt.

Die Geschichte, die P. Huelle entwirft, ist auf den „Zauberberg“ gut abgestimmt, trotzdem merkt man, sie ist heute und nicht vor 80 Jahren geschrieben. Wir leben heute in Zeiten der Krimi- und Spannungsgeschichten und nur wenige Autoren wagen es, ganz ohne diese Elemente auszukommen. Auch bei Huelle sorgt zum Schluss ein Mord für erhöhte Spannung. Der russische Offizier wird ermordet und nun ist es Castorp zu verdanken, dass Frau Pilecka nicht in das Verbrechen verwickelt wird. Castorp sagt vor der Polizei aus, dass Frau Pilecka die Nacht in der Pension in Zoppot in ihrem Zimmer, das neben seinem liegt, verbracht habe, obwohl er weiß, er sagt die Unwahrheit. Als Belohnung dafür kann er das erste Gespräch mit Angebeteten führen und erfährt mehr über die Ereignisse in der Nacht. Jetzt sind sie durch ein Geheimnis verbunden, aber ihre Geschichte erfährt keine Fortsetzung. Frau Pilecka bricht bald nach Warschau auf, Castorp selbst fährt nach Hamburg. Nach der Semesterpause kehrt er nicht mehr nach Danzig zurück. Der Aufenthalt im Osten wird für ihn zu einer Erfahrung, in der „die mühsam erarbeiteten Formen im Chaos versinken“, wovor ihn schon der Onkel Tienappel vorzuwarnen versuchte.

Der Osten verändert, der Osten bringt manchmal unerwartete Abwege. Der Autor Huelle belässt es bei der Feststellung. Man könnte es vielleicht auch positiv deuten: im Osten kann man das Unberechenbare finden. Man trifft hier auf Geheimnisse, die zwar beschrieben, aber nicht ganz aufgeklärt werden. Oder sind sie nur – wie das Buch des polnischen Schriftstellers – Produkte der Phantasie?

Paweł Huelle. „Castorp“. Aus dem Polnischen von Renate Schmidgall. C.H. Beck, München 2005.

Erschienen in MOE-Kultur-Newsletter, Ausgabe 23/24