Die polnischen Theater blicken auf den März 1968

Warschauer Theater erinnern

Im März 2018 jährten sich zum 50. Mal Ereignisse, die kein Ruhmesblatt der polnischen Geschichte darstellen: die innerparteilichen Kämpfe in der polnischen Arbeiterpartei (PZPR) in den 1960er Jahren, der vom Ostblock scharf verurteilte Sechs-Tage-Krieg 1967 in Israel und schließlich die antirussischen Studentenproteste in Warschau im Frühjahr 1968, zu denen angeblich Juden aufgerufen haben sollten. Diese unterschiedlichen Ereignisse und Entwicklungen gipfelten in Polen in der größten antisemitischen Kampagne seit dem Zweiten Weltkrieg. In ihrer Folge reisten etwa 12.000 bis 20.000 der bis dahin noch verbliebenen Juden aus. Viele von ihnen waren Überlebende des Holocaust, die trotz der Kriegstraumata versuchten, ein neues Leben im Nachkriegspolen aufzubauen. Sie wurden gezwungen, das Land zu verlassen und den Großteil ihres geringen Besitzes zurückzulassen. Außerdem verloren sie die polnische Staatsangehörigkeit, weil ihre Ausreisepapiere ihnen nur das einmalige Passieren der Grenze gestatteten. Ausreise nach Israel, Rückkehr ausgeschlossen.

Das Schweigen brechen

50 Jahre nach diesen beschämenden Vorkommnissen erinnern Warschauer Theater an das damalige Geschehen. Für viele jüngere Polen bedeutet das eine erschütternde Aufklärung, da sie vom "März 1968" zwar vage gehörten haben, sich aber häufig nur wenig darunter vorstellen können. Nicht nur zu sozialistischen Zeiten, auch nach Wende hatte man über dieses Kapitel der jüngsten Vergangenheit geschwiegen.

Unter den Inszenierungen der Warschauer Bühnen zu diesem Thema sind vier besonders erwähnenswert: "Kilka obcych słów po polsku" (Einige fremde Worte auf Polnisch) von Anna Smolar im Teatr Polski, "Zapiski z wygnania" (Notizen aus der Verbannung) mit Krystyna Janda im Teatr Polonia, "Sprawiedliwość" (Gerechtigkeit) von Michał Zadara in Teatr Powszechny und "Ida Kamińska" von Gołda Tencer in den Ausweichräumen des Teatr Żydowski. Die letztgenannte Einrichtung, das jüdische Theater Warschaus, ist auch Mitproduzentin der Teatr Polski- und Teatr Polonia-Inszenierungen, sodass das jüdische Theater, obwohl gerade ohne festen Standort, sehr präsent in der polnischen Hauptstadt erscheint.

Reinen Tisch machen

Einige fremde Worte auf Polnisch in der Regie von Anna Smolar ist eine Collage aus verschiedenen Geschichten, die auf Interviews mit 1968 emigrierten Juden und ihren Kindern basieren. Smolar, die selbst als Kind in einer solchen Familie aufwuchs und erst seit einigen Jahren in Polen lebt, erzählt in Bruchstücken diese Schicksale. Auf der Bühne tauschen die Kinder von damals die Geschichten ihrer Eltern und eigene Erfahrungen aus. Die Grausamkeit des Erlebten macht betroffen. Nachbarn schauen kurz zu Besuch herein, um die Wohnung zu inspizieren, "da Sie doch bald ausreisen werden". Das einzige Foto der ermordeten Großeltern darf nicht mitgenommen werden, da es "ein Gegenstand aus den Jahren vor 1945" ist und somit für die Ausreise nicht zugelassen. Smolar will kein reines Dokumentartheater, sie nutzt deshalb Tanzchoreografie und Groteske. Ihre Inszenierung klagt nicht an, aber sie will "reinen Tisch machen", so die Regisseurin, "und vielleicht auch etwas Mitgefühl für damals schikanierte und vertriebene Menschen hervorrufen".

Erfüllt sich die Prophezeiung?

Ebenfalls Verständnis für diejenigen, die gehen mussten, sucht die schlichte und eindrucksvolle Inszenierung Notizen aus der Verbannung mit Krystyna Janda, international berühmt durch Filme von Andrzej Wajda und Gründerin des Privattheaters Teatr Polonia. Die Arbeit, entstanden auf Grundlage autobiografischer Prosa von Sabina Baral, folgt dem Schicksal einer einzelnen Familie. Baral, 1968 zwanzig Jahre alt, verließ das Land mit ihren Eltern, um der alltäglichen antisemitischen Hetze zu entkommen, nicht mehr auf den Straßen von Breslau angespuckt oder von guten Nachbarn nur noch wie Luft behandelt zu werden. Es ist schwer, diesem Bericht zuzuhören; die schlichten Worte des nüchtern geschriebenen Textes, der die Gefühle der Autorin beschreibt, entfalten starke Wirkung. Janda geht mit ihnen sehr zurückhaltend um und verzichtet weitgehend auf szenische Ausdrucksmittel.

Die Schauspielerin steht tief hinten auf der Bühne, hinter einem durchsichtigen Vorhang, auf den ihr Gesicht und Archivaufnahmen projiziert werden. Nur zum Schluss gibt es neuere Bilder vom Aufmarsch der polnischen Rechten auf den Straßen Warschaus zum Unabhängigkeitstag am 11. November 2016. Barals viele Jahre zuvor in Verzweiflung geschriebener Satz: "Uns wird es hier gleich nicht geben, ihr bleibt allein mit eurem Antisemitismus" wirkt hier wie eine sich jetzt erfüllende Prophezeiung.

Erinnerung an eine große Vertriebene

Ein zweites Monodrama, Ida Kamińska, erinnert an Leben und Wirken der jüdischen Schauspielerin, Regisseurin, Theaterleiterin und -pädagogin, der man die Entstehung des Jüdischen Theaters in Warschau nach dem Krieg und Momente großen Theaterglücks zu verdanken hat. Kamińska, die erste – und bis heute einzige – polnische Schauspielerin, die 1967 für den Oscar nominiert wurde, musste 69-jährig aufgrund der Hetzkampagne das Land Richtung USA verlassen.

Ihre Lebensgeschichte, die auch ein Stück polnischer Theatergeschichte ist, inszenierte die heutige Direktorin des Teatr Żydowski Gołda Tencer. Für die Hauptrolle gewann sie Joanna Szczepkowska, eine bekannte Schauspielerin und engagierte Publizistin, die sowohl für ihre unabhängigen Positionen auf der Bühne wie auch außerhalb der Theater besonders geschätzt wird und dadurch auch privat mit der Protagonistin des Stückes viel gemein hat.

Erinnerung und Abrechnung

Aus einer anderen Perspektive nähert sich Michał Zadara dem Thema. Mit seinen vier Schauspielern und einem Team aus Historikern und Juristen geht der Regisseur der Frage nach, ob man heute die damals Verantwortlichen für die Vertreibungen zur Verantwortung ziehen kann. Zadaras Inszenierung nimmt die Täter ins Visier, schildert nüchtern bürokratische Mechanismen der Repressionen, die nicht einmal mit dem Recht der Volksrepublik Polen vereinbar waren. In den eingeblendeten Videointerviews erzählt Zadars Stück Gerechtigkeit von dem durch die Umgebung ausgeübten psychischen Druck, unerwarteten Schikanen, plötzlichen Entlassungen aus den Arbeits- und Ausbildungsstätten, und strebt damit nach einer symbolischen Abrechnung.

Die Aufführungen fordern zu einem ehrlichen Umgang mit der Vergangenheit und ihrer Bedeutung auf, ganz besonders in der Stadt, von deren Bahnhof Dworzec Gdański die Züge mit den Ausreisenden abfuhren. Dass die jüdischen Themen beim Warschauer Publikum auf großes Interesse stoßen, merkt man schon daran, dass für diese Aufführungen nur schwer Karten zu bekommen sind.

Wo man solche Geschichten nötig hat

Insbesondere "Notizen aus der Verbannung" mit Krystyna Janda ist seit der ersten Vorstellung ein Renner, gerne wird weitererzählt, dass die Janda darin "die Rolle ihres Lebens" spiele und dass das Einzige, was man zwei Stunden lang in der angespannten Stille im Zuschauerraum höre, das Schniefen in die Taschentücher sei. Entscheidender aber als die Begeisterung des Hauptstadtpublikums und das Lob der Theaterkritik könnte sich eine von der Schauspielerin geplante landesweite Tournee erweisen.

Janda möchte das Stück auch in kleineren Städten spielen, wo man solche Geschichten besonders nötig hat. Dank ihrer Popularität sind auch dort ausverkaufte Vorstellungen sicher. Jandas Auftritte könnten den Anstoß geben, über den Umgang mit Juden in Polen nachzudenken sowie die im Alltag auf Nationalismus und Ausgrenzung bedachte Politik der regierenden PiS-Partei anders zu betrachten und sie nicht mehr passiv zuzulassen, wie es heute oft geschieht.

Wider die Geschichtsklitterer

Nicht nur Janda scheint ihre Beliebtheit in den Dienst einer Verantwortung für die Vergangenheit stellen zu wollen. Über den März 1968 endlich offen zu reden, ist auch für das Teatr Polski in Warschau eine Frage des Anstands. "Theater muss ein Ort der Debatte sein, nicht ein Sprachrohr für diese oder jene Partei oder Gruppierung", sagte der Intendant Andrzej Seweryn nach der Premiere der Inszenierung von Anna Smolar. Für die herschende PiS-Partei dürfte das eine unangenehme Überraschung sein.

Nachdem sich das Teatr Polski, um sich von den ewigen Geldsorgen zu befreien, 2016 freiwillig aus eigener Initiative dem Kulturministerium unterstellt hatte, was ihm viel Kritik aus der Kulturszene einbrachte, wurde es von der stellvertretenden Kulturministerin Wanda Zwinogrodzka gerne als "musterhaftes Theater" gelobt. Finanziell gestärkt scheint sich das Theater nun aber doch nicht auf Linie bringen zu lassen und der offiziellen PiS-Deutung über den März 1968 folgen zu wollen. Diese lautet: Die Verantwortung für das Geschehen liegt nur bei den damaligen kommunistischen Machthabern und ein bisschen bei den Juden selbst.

Andrzej Seweryn, langjähriger Wajda-Schauspieler und später Ensemblemitglied der berühmten Comédie-Française in Paris, kann über solche Geschichtsklitterung nur mit dem Kopf schütteln. Als politisch engagierter Schauspielstudent marschierte er im Januar 1968 selbst neben Adam Michnik zum Adam Mickiewicz-Denkmal in Warschau, um gegen das Verbot der "Dziady" (Totenfeier)-Inszenierung von Kazimierz Dejmek im Warschauer Nationaltheater zu protestieren, was als Auslöser der folgenden Studentenunruhen gilt. Er lässt sich heute für keine regierungskonforme Auslegung der damaligen Ereignisse gewinnen. Übrigens, wer in Warschau auf die Theaterkarten warten muss, kann sich in der Zwischenzeit über März 1968 auch anderswo gut informieren. Es finden dazu auch zwei Ausstellungen statt: im Jüdischen Museum POLIN "Obcy w domu" (Fremde zu Hause) und im Haus der Begegnungen mit der Geschichte "Bagaż osobisty. Po marcu" (Persönliches Gepäck. Nach März).

Veröffentlichung: Nachtkritik April 2018, Theaterbrief aus Polen 17