Mythen und Geschichte

Szczepan Twardoch wird als neuer Stern am polnischen Literaturhimmel bezeichnet. Mit seinem Roman „Morfina“ gelang ihm in Polen der Durchbruch und er wurde u. a. mit dem renommierten Polityka-Passport-Preis ausgezeichnet. In Deutschland wurde er zu mehreren Literaturfestivals eingeladen, war im April dieses Jahres Gast des Literarischen Colloqiums Berlin und stellte dort die deutsche Ausgabe seines Romans vor.

Iwona Uberman: Die Hauptfigur Ihres Romans „Morphin“ ist Sohn einer Schlesierin und eines deutschen Adeligen, ein Pole aus Erziehung und aus freier Wahl, ein Deutscher von der Herkunft her und auf Befehl des polnischen Untergrunds, der sich nach der Niederlage der polnischen Armee im September 1939 formiert hat. Wie haben Sie dieses Thema für sich gefunden?

Szczepan Twardoch: Auf die Frage, woher man die Ideen nimmt, gibt es wahrscheinlich keine gute Antwort. Nicht ich habe dieses Thema, das Thema hat mich gefunden. Die Bücher kommen mir einfach in den Sinn, ich bin nicht derjenige, der sich die Themen aussucht oder erarbeitet. Die Frage nach nationalen Identitäten, insbesondere der zusammengesetzten Identitäten, hat mich schon immer interessiert. Besonders solche wie die Identität der Hauptfigur von „Morphin“, die komplizierter ist, als dass er ein Pole aus freien Stücken ist - in Wirklichkeit versucht er, niemand, also weder Deutscher noch Pole, zu sein. Im Übrigen ist das nicht das einzige Thema des Romans, mein Buch ist vielstimmig.

Iwona Uberman: Worüber handelt es noch?

Szczepan Twardoch: Es ist ein Buch über Warschau, sicherlich auch ein Buch über Frauen und über Sex, über Geschlechter im Allgemeinen. Es ist ein Buch über Krieg und darüber, was er mit Menschen macht. Auf einer gewissen Ebene ist es auch ein Männer-Roman, über ein schönes Leben, das nicht gelingen will. Worüber noch? Über Autos, Waffen, Drogen, darüber, wie herrlich es ist, mit einer schönen Frau und einer Luxuskarre eine Reise in die Fremde zu machen…

Iwona Uberman: Womit haben Sie angefangen, es zu schreiben?

Szczepan Twardoch: Mit dem Anfang. Ich fange meine Bücher gewöhnlich mit der ersten Seite an und höre mit der letzten Seite auf. Ich weiß, dass dies nicht alle so tun, aber ich arbeite so.

Iwona Uberman: Das Thema des Zweiten Weltkriegs ist in Polen immer noch ein lebendiges Thema, dessen man sich mit großer Pietät annimmt. Heldenhafter Kampf gegen den Feind und Leiden des polnischen Volkes sind Angelegenheiten, die nicht infrage gestellt werden.

Szczepan Twardoch: Alles kann man infrage stellen. Der Zweite Weltkrieg ist vor 70 Jahren zu Ende gegangen, er wird also demnächst zu einem ähnlichen Thema wie die „schwedische Sintflut“ in Polen oder der Januaraufstand von 1863. Wenn die letzte Generation, die ihn erlebt hat, nicht mehr am Leben sein wird, wird er nicht länger so starke Emotionen hervorrufen. Es ist unvermeidbar und ich glaube, dass man in Polen einen großen Teil der Geschichte wird neu schreiben müssen, weil wir gegenwärtig keine Geschichte, sondern eine Ansammlung von Mythen an ihrer Stelle haben. Jede Gemeinschaft braucht natürlich solche Mythen, deshalb braucht auch Polen die seinen. Aber neben den Mythen braucht man auch eine Geschichte. Ich verstehe darunter die Aufarbeitung historischer Tatsachen und Dokumente, die dann in die Identität der Gemeinschaft eingehen. Ich würde sogar sagen, es geht hier um eine therapeutische Aufarbeitung der Bedeutung der Vergangenheit. So etwas ist notwendig, um überhaupt anfangen zu können, über sich in mehr realen, mit Wirklichkeit verbundenen Kategorien zu denken.

Iwona Uberman: Polnische Mythen sind zurzeit weit verbreitet. Befürchteten Sie nicht, dass Ihr Buch, das in gewissem Sinne „die Kehrseite der Medaille“ zeigt, auf große Entrüstung treffen wird?

Szczepan Twaroch: Ich denke überhaupt nicht in solchen Mustern und habe keinesfalls Angst davor – was sollte man hier befürchten? Man braucht vor Entrüstung keine Angst zu haben, sie schadet doch keinem nirgendwo.

Iwona Uberman: Für „Morphin“ bekamen Sie einen wichtigen Preis „Paszport Polityki“, der in Polen viel Prestige hat, kurz danach wurde das Buch mit sechs anderen für das Finale des Nike-Preises 2013 nominiert, der wichtigsten polnischen Literaturauszeichnung. Es gewann dort den Publikumspreis. Wie erklären Sie diesen Erfolg und die Tatsache, dass der Roman in ganz verschiedenen Leserkreisen zum Bestseller wurde?

Szczepan Twardoch: Ich habe keine Ahnung. Wenn ich es wüsste, würde ich ausschließlich Bestseller schreiben.

Iwona Uberman: „Morphin“ ist inzwischen auf Deutsch in der Übersetzung von Olaf Kühl erschienen. Wie ist die deutsche Resonanz auf das Buch?

Szczepan Twardoch: Die Besprechungen, die in der FAZ und in „Die Zeit“ erschienen, waren sehr positiv. Mein Buch ist hier erst seit einem Monat im Buchhandel erhältlich.

Iwona Uberman: In Berlin-Wannsee, im Literarischen Colloquium Berlin, wo Sie sich in den letzten Wochen als Gast aufhielten, gab es ein Publikumsgespräch mit Ihnen. Der Saal war voll.

Szczepan Twardoch: Das stimmt, es kamen viele Leute. In Köln gab es auch ca. 250 Personen beim Publikumstreffen während des Literaturfestivals Lit.Cologne. Möglicherweise kamen viele von ihnen wegen des Schauspielers Sylvester Groth, der die Buchausschnitte vorlas – übrigens, er tat es wirklich phänomenal.

Iwona Uberman: Werden Sie sich auch in Zukunft mit der deutsch-polnischen Thematik beschäftigen?

SzczepanTwardoch: Ich denke schon. Ich würde lieber über etwas anderes schreiben, aber andererseits sind diese Themen für mich persönlich wichtig, deshalb befasse ich mich mit ihnen.

Iwona Uberman: Wegen Ihrer schlesischen Herkunft?

Szczepan Twardoch: Ja, es hängt mit meiner Familiengeschichte zusammen. Sie war oft auf eine dramatische Weise in diese zwei großen Identitäten, eine polnische und eine deutsche, verwickelt. In der Zeit zwischen dem Ersten und dem Zweiten Weltkrieg lebte meine Familie auf beiden Seiten der Grenze, sowohl in Polen als auch in Deutschland, nicht weit voneinander entfernt; die Dörfer lagen nur etwa 10 km auseinander, jedoch auf verschiedenen Seiten der Grenze. Die Erfahrungen der beiden großen Kriege sowie der Kämpfe um Schlesien waren so dramatisch und hinterließen auf meinen Urgroßeltern und Großeltern so starke Spuren, dass sie auch für mich wichtig geblieben sind. Es sind sehr lebendige, stark prägende Erinnerungen.

Iwona Uberman: Manche Themen finden also nicht ohne Grund zu Ihnen.

Szczepan Twardoch: Das stimmt.

Iwona Uberman: Einige Kritiker meinten, dass Ihr Buch eine polnische Antwort auf „Wohlgesinnte“ von Jonathan Littell ist. Was sagen Sie dazu?

Szczepan Twardoch: Mein Buch antwortet auf kein anderes Buch. Ich führe in ihm kein Dialog mit einem anderen Schriftsteller, ich sehe kein Bedürfnis, mit einem Roman ein Gespräch mit einem anderen Roman zu führen. Man könnte sich aber fragen, ob in meinem Buch Ähnlichkeiten mit „Wohlgesinnten“ zu finden sind. Wahrscheinlich ja, sollte ich jedoch selbst meine wichtigeren Inspirationsquellen benennen, würde ich eher Célines „Reise ans Ende der Nacht“ und allgemein den expressionistischen Roman angeben.

Iwona Uberman: Man hat Sie auch mit Gombrowicz verglichen…

Szczepan Twardoch: Ich übernehme keine Verantwortung dafür, mit wem ich verglichen werde. Ich kenne natürlich die Werke von Gombrowicz, habe vieles von ihm gelesen, aber Gombrowicz‘ Schreiben hat mich nicht besonders stark geprägt. Andererseits ist der Einfluss dieses Schriftstellers auf die zeitgenössische polnische Kultur, auf unser Denken über die Literatur oder auch Denken durch Literatur so groß, dass man ihn nicht abstreiten kann. Wer auf Polnisch heute, d.h. im ersten oder zweiten Dezennium des 21. Jahrhunderts, Romane schreibt und wer dies bewusst tut, kann sich dem Einfluss von Gombrowicz nicht ganz entziehen, da dieser Autor das polnische Denken über Literatur auf den Kopf stellte und aufs Neue formte.

Iwona Uberman: In der polnischen Originalausgabe Ihres Buches gibt es mehrere Sätze auf Deutsch. Wie nahe ist Ihnen deutsche Sprache?

Szczepan Twardoch: Ich lese und verstehe gut Deutsch, aber ich spreche Englisch. Trotz langjähriger Anstrengungen meiner Großmutter. Vielleicht hängt es aber mit meiner noch früheren Kindheit zusammen, als meine Großeltern ins Deutsche wechselten, wenn sie nicht wollten, dass wir sie verstehen.

Iwona Uberman: Sie haben bereits etwas längere Zeit in Berlin verbracht. Wie finden Sie diese Stadt?

Szczepan Twardoch: Berlin ist fantastisch, es gefällt mir sehr gut. Ich denke, dass diese Stadt neben Warschau zu meiner Lieblingsmetropole wird.

 

Übersetzt von Iwona Uberman 

Erschienen in: MOE-Kultur-Newsletter Ausgabe 94