Der Teufel steckt im Detail

Festival „Dialog Wrocław” ging zum siebten Mal zu Ende

Zum Thema Gewalt konnte man auf dem Festival „Dialog – Wrocław“ viel erfahren. „Antigone“ aus Tallinn, in der Regie des Iraners Homayun Ghanizadeh zeigte, wohin es führt, die Macht mit Gewalt erhalten zu wollen und weckte Assotiationen zur heutigen Politik in Iran. „Exhibit B“ Südafrikaners Brett Baileys, das vor einem Jahr auch schon in Berlin viel Aufsehen erregte und einen wichtigen Anstoß zur hiesigen Debatte über die koloniale Vergangenheit Deutschlands gab, sorgte in Wroclaw ebenfalls für Begeisterung und gleichzeitig für Entsetzen. Die aus Mexiko angereisten Mitglieder des Lagartijas tiradas al sol führten in „The sound of fire“ vor, wie sich in ihrem Land jahrzehntelang die Gewaltspirale drehte und menschliche Existenzen zerstörte - auf allen Seiten der Barrikaden. Die aus dem diesjährigen „Foreign Affairs“ in Berlin schon bekannte Performance der Spanierin Angelika Liddell „Ich bin schön“ kreiste um die Gewalt gegen Minderjährigen und Frauen.

Eine besondere Sicht auf das Thema boten zwei deutsche Aufführungen an: Shakespeares „König Lear“ und Sarah Kanes „Gesäubert.Gier.4.48 Psychose“ aus den Münchner Kammerspielen, beide in der Regie des Holländers Johan Simons. Sie zeigten mit sparsamen Mitteln, wie viele von den durch uns später erfahrenen Leiden ihren Ursprung bei uns selbst nehmen. Das internationale Festival-Fenster war breit geöffnet und Interessierte konnten bei den erwähnten und weiteren ausländischen Präsentationen weit in die Welt hinaus schauen. Zu einer Erweiterung des Bildes trugen auch polnische Inszenierungen bei, die in verschiedenen Theaterformen das Thema beleuchteten. Auch hier gab es interessante Aspekte zu entdecken, jedoch noch interessanter als diese Ansätze war die Bestandaufnahme des Zustandes der polnischen Gesellschaft, die sich durch diese Inszenierungen ergab.

Gefährlich aufsteigende Antisemitismus, Fremdenfeindlichkeit, Homophobie, zahlreiche intolerante Ausschreitungen und Verherrlichung der Gewalt durch manche Gruppierungen sind in heutigen Polen leider keine Seltenheit. Sie sind bestimmt nicht nur eine polnische Spezialität, diese Tendenzen sind zurzeit europaweit, vielleicht sogar weltweit zu beobachten. In den meisten Ländern sind es vor allem viele Künstler, die versuchen, gegen diese Entwicklung anzukämpfen. Das gilt auch für Polen. Inwieweit jedoch die Polen, polnische Künstler inbegriffen, frei vom alltäglichen Rassismus und Neigungen zur Diskriminierung sind, bleibt für die polnische Autorin dieses Kommentars eine heikle Frage. Sie zu stellen scheint deshalb wichtig, weil sie auch eine andere impliziert. Inwiefern dürfen diejenigen, die eigene Intoleranz nicht wahrnehmen, gegen die Verblendung der anderen vorgehen?

Wie man weiß, steckt der Teufel immer in Detail. Es lohnt sich deshalb, bei den Kleinigkeiten anzufangen. Bei dem „Sturm“ nach Shakespeare (Regie Maja Kleczewska) in einer Szene eines etwas schärferen Flirts fallen folgende Worte: „Es stinkt hier nach Fisch. Nach deutschem Fisch.“, etwas früher, bei einer Szene, in der ein Kreuzworträtsel gelöst wird, hörte man folgendes „Nachbar des Rumänen? – Ein Dörfler“. Übrigens bei den englischen Untertiteln übersetzte man es mit einer Phrase, die das Wort „pigs“ enthielt – war es vielleicht ein Versehen? Noch später, bei einem Streit zwischen Caliban und Prosperos Frau wurde die letztere beleidigt, sie sei schon an die 60 und immer noch scharf auf Männer. Als danach einige ältere Damen aufstanden, um den Zuschauerraum zu verlassen, wurde dies von dem Schauspieler entsprechend kommentiert. Es bleibt festzuhalten, dass bei allen diesen „Gags“ Gelächter des Publikums zu hören war.

Einige ähnliche Details lassen sich bei „Kabaret Warszawski“ von Krzysztof Warlikowski finden. Sehr überzogen und mit höhnischem Unterton werden in einem Berliner Kabarett bayerische Volkslieder gesungen, ein später kommender brüllender Deutsche oder – in noch einer anderen Szene – religiös bekleidete Juden, die zum israelischem Pop tanzen, sind nur mit gutem Willen als Klischees einzustufen. Auf Videofilmen werden Namibier als Kuriosum gezeigt, da ihre Sprache akustische Besonderheiten enthält, und auf die Äußerung einer Kanadierchinesin „Mein Vater ist Chinese“ fällt der Autoren des Textes nur „Ich mag chinesisches Essen“ ein. Laut des Programmheftes entstand die Spielvorlage anhand der Texte von Jonathan Littell, John Maxwell Coetzee, John Cameron Mitchell und anderen Autoren. Man möchte nicht unnötig den Eindruck gewinnen, dass diese solche Witze in die Welt setzen.

Bei „Kabarett Warszawski“ ist jedoch eine andere Frage viel quälender. Ist sein Regisseur tatsächlich überzeugt, dass sich der von ihm gewählte historische Stoff (die erste Hälfte der Inszenierung fußt stark auf dem Film „Cabaret“ von Robert Fosse) gut dafür eignet, über den heutigen polnischen, italienischen, französischen oder niederländischen Rechtsruck und den in diesen Ländern heute herrschenden Antisemitismus zu reden? Ist es wirklich noch zeitgemäß, mit dem Finger weiterhin auf Deutschland zu zeigen, wo das Problem mit rechter Ideologie zwar immer noch vorhanden, aber im Vergleich zu vielen anderen europäischen Ländern dort heute nicht so beunruhigend stark ist? In Bezug auf Polen ergibt sich hier eine zusätzliche Schwierigkeit: seit dem Zweiten Weltkrieg prägte sich in seinem Bewusstsein ein Bild ein: „deutsche Täter und polnische Opfern“. Es ist so stark verfestigt und undifferenziert, dass es eher unwahrscheinlich ist, die Botschaft zu verstehen, dass das, was es in Nazi-Deutschland gab, Zustimmung für rechte Ideologie und aggressives Antisemitismus, auch heute in Polen zu finden ist. Ohne klare Bilder und deutliche Aussagen, und diese sind bei Warlikowski nicht vorhanden, ist eine solche Botschaft nicht zu verstehen. Vielleicht aber war es gar nicht die Intention des Regisseurs, auf dieses hinzuweisen. Vielleicht ist „Kabaret Warszawski“ kein Auflehnen gegen die Rechte, sondern eine Fortsetzung des Kampfes um die Anerkennung von Schwulen und Lesben in Polen. Dafür ist der Regisseur schon vor zwölf Jahren in seiner grandiosen Inszenierung von „Gesäubert“ angetreten. Die auf dem Festival als Wiederaufnahme gezeigte Inszenierung von Sarah Kane hat bis heute von ihrer Kraft nichts verloren. Sie entstand mit einfachen Mitteln und hat in Polen viel bewegt. Hier entsteht eine nächste Frage. Muss man denn heute einen Riesenapparat nutzen, muss man Bilder an der Grenze zum Kommerz produzieren, um das Publikum zu erreichen und glaubt man wirklich, so mehr sagen zu können als mit einer schlichteren Inszenierung? Spricht wirklich Aufwand für die Größe eines Theaterwerks und bewegt eine „große“ Inszenierung mehr als eine „kleinere“?

Eine weitere Frage stellte sich bei einer der Diskussionen im Klub „Schody Donikąd“. Diese Veranstaltungsreihe, die spannende und hochkarätig besetzte Gespräche mit Künstlern und Intellektuellen bot, war ein Geheimtipp des Festivals. Man diskutierte dort viel Interessantes. Es verwundet jedoch, dass bei dem Treffen mit Brett Bailey das Gespräch - nachdem man zuerst die Anerkennung für sein Werk äußerte - von dem Thema Afrika und der vielfältigen Problematik seiner Vergangenheit, die „Exhibit B“ enthält, schnell zum Thema des Zurschaustellens von sozial Schwachen in polnischen Medien und anderen hiesigen Schwierigkeiten wechselte. Polen trägt zwar keine direkte Verantwortung für die Schrecken der kolonialen Politik der vergangenen Jahrhunderte, aber ist unsere heutige Haltung zu Afrikanern wirklich so anders, als die der weißen Kolonisatoren? Wäre das nicht ein angemessenes Thema für ein Gespräch? Wie werden in Polen Afghanen, Iraker oder auch Ukrainern behandelt, um nur einige Nationalitäten hier zu benennen?

Eine wieder andere Frage betrifft die lokale Presse. „Dialog – Wrocław“ ist eine internationale Veranstaltung von Rang, wie sie in der Stadt nicht jeden Tag zu erleben ist. Warum ist es der lokalen Presse offensichtlich nicht wert, in den acht Tagen über die zahlreiche Ereignisse kontinuierlich zu berichten?

Der diesjährige „Dialog – Wrocław“ war eine Veranstaltung, die neben den Theatereindrücken und Diskussionen viele Fragen geworfen hat. Für die Festivalmacher ist es als Kompliment zu verstehen.

Erschienen in: MOE-Kultur-Newsletter, Ausgabe 91