Diebe, die nichts stehlen

Europäischer Übersetzerworkshop im Deutschen Theater Berlin

Wer sich am letzten Tag des Berliner Theatertreffens 2010 nach der Vorstellung von Dea Lohers „Diebe“ im Deutschen Theater am Theaterzauber noch nicht satt gesehen und weiterhin Lust hatte, mehr davon zu erleben, konnte am gleichen Abend in der Box des DT eine ungewöhnliche Theaterpräsentation erleben. Es war die Abschlussarbeit des Projektes „Diebe: Transfer“, das im Rahmen des Theatertreffens, mit Hilfe der European Theatre Convention und des Goethe-Instituts unter der Leitung des Ideengebers, des Deutschen Theaters, durchgeführt und gezeigt wurde. So wie der Stückemarkt, bei dem inzwischen neben deutschen auch neue Texte ausländischer Autoren vorgestellt werden, hat auch „Diebe: Transfer“ die alte, renommierte deutsche Theaterveranstaltung um eine europäische Dimension bereichert. Dieses Mal wurden die Übersetzer und ihre Arbeit in den Mittelpunkt gestellt. Die Organisatorinnen des 4-tägigen Workshops Christa Müller und Andrea Udl haben erkannt, dass es nicht ausreicht, sich damit zufrieden zu geben, dass jedes EU-Land eine Theaterkultur besitzt, um eine europäische Kultur im vereinigten Europa zu haben. Es ist wichtig, vom Theaterleben der anderen zu schöpfen und sie an dem eigenen teilnehmen lassen. Man muss die Dramen lesen, nicht nur über sie lesen, man muss sie spielen, nicht nur gelegentlich bei Gastspielen aus dem Ausland sehen können. Die Frage der Übersetzungen rückt somit ins Zentrum. Wer, wie die beiden Projektleiterinnen, die Praxis gut kennt, weiß, dass die Übersetzer viel zu selten in die praktische Theaterarbeit einbezogen werden, dass sie bei Zweifeln und Problemen nicht immer Gelegenheit haben, bei den Autoren nachzufragen und dass sie zwar sehr oft mit literarischer Sprache, nicht aber mit in theatralischen Dialogen gesprochener direkt auf Laut-und-Klang bedachter Kunstsprache gut vertraut sind. (Interessanterweise gibt es im israelischen Theater die Tradition, dass der Übersetzer auch bei Theaterproben anwesend ist, wie die von dort kommende Eynat Baranovsky berichten konnte). Für Beschreitung neuer Wege beim Erschaffen einer gemeinsamen Theaterkultur wurde das neueste Stück von Dea Loher „Diebe“ ausgewählt, das vor kurzem im DT seine Uraufführung erlebte und gleich als eine der 10 besten Inszenierungen des Jahres beim Berliner Theatertreffen gezeigt wurde. Drei Theater aus dem Ausland: Teatrul National „Marin Sorescu“ aus Rumänien, Dramaten aus Schweden und Cameri Theater aus Israel (das inzwischen ebenfalls zu Europa gezählt wird) haben ihr Interesse an dem Projekt bekundet und schickten für 4 Tage ein kleines Team aus Übersetzer, Regisseur und zwei Schauspielern nach Berlin. Allen diesen drei Ländern ist gemeinsam, dass Dea Loher bei ihnen bis jetzt noch wenig bekannt ist, aber allgemein großes Interesse an deutscher Literatur und zeitgenössischem Theater besteht. Die Klugheit der Organisatorinnen lag darin, zu erkennen, dass es neben dem überall diskutierten Problem des Geldes für Kultur noch andere sehr wichtige Aspekte gibt, ohne die es unmöglich ist, Kultur zu erschaffen, und gerade diese immateriellen (wahrscheinlich auch unbezahlbaren) Werte zu unterstützen. Der Satz des rumänischen Übersetzers Cosmin Dragoste „das Übersetzen ist eine Leidenschaft“ gilt für alle drei an dem Projekt teilnehmenden und bestimmt auch für viele andere Übersetzer. Gerade diese Leidenschaft „am Kochen“ zu halten durch Ereignisse wie das Treffen mit Dea Loher, gemeinsames Arbeiten am Text zusammen mit in Sprache und Übersetzen erfahrenen deutschen Dramaturginnen und der Austausch mit Fachkollegen, bringt Inspiration und Energie für weiteres Schaffen und gehört zu den großen Gewinnen der Veranstaltung. Interessant dabei war auch, immer wieder festzustellen, dass egal in welche Sprache übersetzt wurde, sich viele Nachfragen zum Originaltext auf die gleichen Stellen bezogen. Oder dass ein Gespräch über ein Problem bei einer Textpassage genauso gut helfen kann wie das Angebot einer Lösung. Nach einer intensiven gemeinsamen Arbeit konnten Maria Tellander, Eynat Baranovsky und Cosmin Dragoste ihre Übersetzungen einiger Szenen des Stückes präsentieren, die noch tiefer in die Welt der Sprache Dea Lohers eindrangen und sie noch facettenreicher wiedergaben als die nach Berlin mitgebrachten, ursprünglichen Fassungen.

Im nächsten Schritt wurde die theatralische Wirkung der entstandenen Texte überprüft, indem die aus Israel, Rumänien und Schweden mitgekommenen Schauspieler unter der Leitung ihrer Regisseure die Passagen in Szene setzten. So konnten die Übersetzer ihre Textfragmente schon in diesem Stadium der Arbeit am Theater erleben und weitere Erfahrungen für die Übersetzung der restlichen Teile des Stückes sammeln. Das Theaterensemble schon in diese Phase der sprachlichen Übertragung einzubeziehen, ist ein ganz neuer Gedanke. Für alle Projekt-Teilnehmer war es ein Wagnis. Über die durch die neue Arbeitsmethode gewonnenen Perspektiven tauschte man sich sowohl untereinander aus wie auch mit den der Präsentation beiwohnenden deutschen Schauspielern, die am DT in der „Diebe“-Inszenierung mitwirken.

Die dreisprachige Präsentation der Szenen in der Box war öffentlich und nicht nur ein für die Projekt-Teilnehmer und Schauspielerkollegen, sondern auch für Außenstehende sehr spannendes Erlebnis. Das Betrachten der durch Theater, die aus verschiedenen Ländern kamen, inszenierten Szenen bedeutete nicht nur hintereinander drei Regiestile und unterschiedliche Interpretationen der Situationen zu erleben. Es war ebenfalls mehr als ein Genuss, dieselben Szenen dargestellt durch unterschiedliche Schauspielerpersönlichkeiten miteinander zu vergleichen. Plötzlich wurde man sich bewusst, wie verschieden unsere europäischen Temperamente, geografisch und historisch bedingten Lebensumstände und Lebensstile sowie die Art des Transformierens der Realität für das Theater sind. Jedes Mal bekam dieselbe Szene von „Dieben“ eine Dimension, die sie in einen schwedischen, rumänischen oder israelischen Kontext stellte. Es war deutlich zu sehen, dass - solange wir die Kraft der lokalen Kulturen und unserer Sprachenvielfalt nutzen - man keine Angst vor Verflachung der Kultur in Europa zu haben braucht. Wenn wir voneinander lernen und mehr Stücke der Nachbarn in heimischen Theatern zeigen, müssen wir um eine gemeinsame kulturelle Zukunft Europas nicht fürchten. Unsere Phantasie ist zu reich, unsere Vorräte zu vielfältig, um Gefahr einer Vereinheitlichung zu laufen. Aber wir müssen lernen, von dem Schatz klug und gekonnt zu schöpfen. Solche gelungene Projekte wie „Diebe: Transfer“ sind hierfür Wegweiser und wir haben sie in Europa nötig! Es ist den Veranstaltern zu wünschen, dass sie weiter dran bleiben. Es werden alle etwas davon haben, nicht nur den europäischen Übersetzern wird es zugute kommen.

Iwona Uberman

Erschienen in MOE-Kultur-Newsletter, Ausgabe 69