Ein Regisseur des Wortes

Ein Gespräch mit Andreas Kriegenburg

Iwona Uberman : Herr Kriegenburg, in Polen ist folgendes Bild vom deutschen Theater weit verbreitet: das deutsche Theater ist ein Regie-Theater, in dem Theaterstücke nur als Ausgangsvorlage betrachtet werden, folglich kann man die Dramen auf der Bühne kaum wiederkennen und Inszenierungen bestehen hauptsächlich aus Schauspieler-Improvisationen. Finden Sie sich als deutscher Regisseur in dieser Beschreibung wieder?

Andreas Kriegenburg :  Ja und nein. Die Theater sind ja auch immer Strömungen und  Wellenbewegungen, Moden unterworfen. Für das deutsche Regietheater ist sicherlich ganz wichtig, dass der Regisseur nicht nur Diener am Autor ist, der die Aufgabe der Realisation einer Aufführung erfüllt, sondern dass seine Begegnung mit dem Werk auch Teil der Aufführung ist, eine Nähe oder eine kritische Distanz zum geschriebenen Wort, zum Werk des Autors Teil der Aufführung sein muss. Es geht also nicht nur um die Abbildung eines Stückes, sondern um die konstruktive, produktive, auch kritische Auseinandersetzung. Der Regisseur ist der Autor für seine Aufführung, seine Widerspiegelung des Textes und der Lebenswirklichkeit des Autors ergibt ein neues, eigenständiges Kunstwerk. Eigentlich, wenn man es genau anschaut, ein Prozess, der bei jedem Lesen von Literatur stattfindet. Es gab eine Zeit, wo sich die Regisseure sehr stark sich im Widerstand gegen das geschriebene Wort befunden, sehr stark über Ironie, über Spott oder auch über den Angriff auf das Wort erzählt haben. Im Moment ist es so, dass viele, auch gerade der jüngeren Regisseure wieder versuchen, auf die Autoren zuzugehen, stärker Geschichten zu erzählen.

Uberman: Woher kommt es?

Kriegenburg: Das hängt auch damit zusammen, dass die Autoren angefangen haben in den Texten zu inszenieren, sich davon entfernt haben, dramatische Geschichten zu erzählen, sondern angefangen haben, die Figuren quasi aus einer Innensicht heraus zu beschreiben. Sie haben Texte als Collagen angeboten, wurden formal viel aufregender und reicher und haben quasi das, was im Theater mit ihren Texten passiert ist, dass die Texte in ihrer linearen Struktur aufgebrochen wurden, selber schon in ihre Texte aufgenommen. Insofern gibt es da auch eine sehr spannende, produktive Wechselwirkung, wo die jungen Regisseure jetzt wieder zurückgehen und nach Möglichkeiten suchen, Geschichten zu erzählen, Mittel zu vereinfachen, also wegzukommen von der Dekonstruktion von Erzählungen.

Uberman: Wie ist Ihre Position?

Kriegenburg: Ich habe mich eigentlich immer, auch wenn ich eine Zeit lang bei frühen Arbeiten anders beschrieben oder wahrgenommen wurde, als Erzähler begriffen. Für mich ist es wichtig, dass man die Lebenswirklichkeit des Autors und meine Lebenswirklichkeit, so unterschiedlich die manchmal sind, nebeneinander spürt.  Ich will auch nicht nur Diener sein, ich will auch über mein Wesen, über meinen Blick auf ein Stück seine Seele entschlüsseln und präsentieren. Ich versuche eigentlich immer auf ein Stück zuzugehen, auch wenn ich mich scheinbar davon entferne, auch wenn ich einen tragischen Stoff scheinbar komödiantisch mache. Es ist eher ein Versuch, das für mich erlebte Tragische auf eine überraschende, für den Zuschauer neu erlebbare Weise zu erzählen. Aber eigentlich bin ich im Grunde meines Herzens wirklich ein Geschichtenerzähler und kein dekonstruierender oder in vielen Formen, in Collagen, arbeitender Regisseur.

Uberman: Sie haben als junger Regisseur zuerst mehrere Jahre an der Berliner Volksbühne gearbeitet. Trotzdem unterscheidet sich ihre Regiehandschrift sehr von der der Volksbühne. Gibt es dafür eine Erklärung?

Kriegenburg: Ja eine sehr einfache Erklärung. Ich bin an einem ganz bestimmten Punkt, an dem ich merkte, dass meine Regiehandschrift eigentlich verschwindet, von der Volksbühne weggegangen. Das war für mich ganz wichtig. Ich war halt sehr jung, als ich nach Berlin engagiert wurde und noch auf der Suche nach der eigenen Handschrift. Ich habe in der Volksbühne auf der einen Seite sicherlich sehr viel erlebt, sehr viel gelernt, hatte aber auch, so sehr im Fokus der Aufmerksamkeit stehend, nicht die Möglichkeit, meine ganz eigene Theatersprache zu entwickeln.

Uberman: Es gibt wenige Kollegen, die mit ihren Inszenierungen ähnlich oft wie Sie zu den Berliner Theatertreffen – einem der wichtigsten Theaterfestivals im deutschsprachigen Raum - ausgewählt worden sind. Bei Ihnen waren es neun Aufführungen. Was ist das Geheimnis dieses Erfolges?

Kriegenburg: Das ist von mir schwer zu beantworten. Ganz wichtig für mich an der eigenen Arbeit ist, immer wieder auch mir ausgesetzt zu sein. Auch in der Arbeit mit den Schauspielern ist es für mich wichtig zu versuchen, überraschend zu sein, mich formal nicht zu wiederholen, mich in den szenischen Mitteln, in der szenischen Fantasie nicht zu wiederholen, sondern für mich selber und die Schauspieler und damit natürlich auch für die Zuschauer und Kritiker immer wieder überraschend zu sein, mich auch selber nicht auf einen bestimmten Stil festzulegen. Ich glaube, dadurch trat über einen so langen Zeitraum, in dem ich immer wieder zum Theatertreffen eingeladen worden bin, nie eine Ermüdung in der Weise ein, dass man sagt, das kennen wir jetzt schon. Die Arbeiten, mit denen ich eingeladen worden bin, sind untereinander sehr verschieden. Insofern ist das, was vielleicht einen Stil von mir ausmacht, die Unberechenbarkeit der Mittel, dass man es nicht genau weiß, was einen erwartet, wenn man in einen Abend von mir geht.

Uberman: Woher kommt es, dass Sie in so verschiedene Richtungen gehen?

Kriegenburg: Ich glaube, da gibt es mehrere Antworten. Zum einen bin ich ein sehr verspielter Mensch, auch ein Mensch, der sich sehr schnell an sich selber langweilt. Wenn ich eine Arbeit mache, die eine sehr poetische, zarte Erzählweise hat, habe ich schon in der Arbeit die Sehnsucht, etwas Gröberes, Böseres, Aggressiveres zu machen. Dann bin ich jemand, der versucht, sehr auf die Stücke zuzugehen. Nicht, dass ich versuche, sie möglichst originalgetreu, werkgetreu - was auch immer das heißen mag - abzubilden, sondern, dass ich ein Ereignis schaffe, wo der Zuschauer das Stück auch in überraschend neuer Weise sieht oder auch neu versteht. Ich versuche, für jede Unterschiedlichkeit von Literatur oder Thema eine eigene Sprache zu kreieren. Wichtig ist und das ist eine sehr gefährliche Antwort: Es gibt im Theater bei den Regisseuren, ich glaube weltweit nur sehr wenige Künstler, die das Vokabular der künstlerischen Sprache erweitert haben. Pina Bausch ist so ein jemand, Frank Castorf, vielleicht auch Robert Lepage, vielleicht Peter Brook, aber es gibt nur ganz wenige, die wirklich Neues schaffen, die den Kollegen, also auch mir, neue Mittel in die Hand geben, über die wir Theater kreieren können. Christoph Marthaler hat einen ganz bestimmten Stil, aus dem wir dann auch schöpfen können, es sind also Möglichkeiten, die wir benutzen können. Ich hab für mich sehr früh erkannt, dass ich so jemand nicht bin, dass eine wesentliche Qualität bei mir vielleicht darin besteht, sehr unterschiedliche Stile neu zu verbinden. Das klingt heikel, aber es ist tatsächlich so, dass ich neue Verknüpfungen schaffen kann, aber nicht in der Weise in einer Richtung so radikal bin, dass auch ich sagen könnte, das ist was ganz Neues. Aber wie gesagt, da gibt es ganz wenige Künstler, die etwas schaffen, was auch dann in den Sprachgebrauch der Regisseure übergeht, das man eine Pina Bausch-Szene  oder eine Castorf-Szene oder einen Marthaler-Moment macht.

Uberman: Sie sind auf eine unkonventionelle Weise Regisseur geworden…

Kriegenburg: Das hängt mit der DDR zusammen. Die DDR war einfach ein sehr kleines, überschaubares Land, was wir selber immer vergessen. Es war durch das sozialistische Gesellschaftsprinzip überhaupt nicht auf Produktivität ausgelegt, d.h., man konnte ganz faul sein und hatte viel Zeit, sich zu überlegen, was man werden will. Ich hab Tischlerei gelernt - es gab einen Tag, an dem man sich entscheiden musste, eine Lehre anzutreten. Und ich hab mich für die Tischlerei entschieden, aber in der Gewissheit, irgendetwas anderes wird’s werden. Ich bin dann über Umwege zum Theater gelangt und habe sofort in mir den Wunsch verspürt, ich will Schauspieler werden. Gott sei Dank hat dann ein mit mir befreundeter Schauspieler gesagt: „Das solltest Du bleiben lassen“, und hat den schönen Satz geprägt: „Wenn in Teufels Küche, dann als Koch.“ Und es war für mich, der tatsächlich weniger Selbstdarstellung als eine ausgeprägte Wahrnehmung von sozialen Situationen hat, auch die richtigere Entscheidung zu sagen, dann versuche ich es mit der Regie. Die Regie gibt die Möglichkeit, Situationen zu schaffen, die nach Harmonie streben, die vielleicht nicht immer harmonisch sind, die aber nach einer tiefen, sozialen Harmonie streben, wo Menschen unterschiedlichster Charaktere miteinander kreativ sein können. Und das ist etwas, was ich gut kann, Freiräume schaffen in abgeschlossenen Systemen.

Uberman: Und dann haben Sie eine Regieassistenz gemacht...

Kriegenburg: Ja, ich hab Regieassistenz gemacht, in einem sehr kleinen Theater in Zittau im Dreiländereck und habe als Regieassistent angefangen zu inszenieren, sehr früh, mit noch nicht ganz einundzwanzig Jahren.

Uberman: Sie sind nicht nur ein sehr erfolgreicher Regisseur, sondern auch ein erfolgreicher Bühnenbildner geworden, und wurden mit Ihrem „Prozess“ von Kafka und Kleists „Prinz von Homburg“ sowie „Diebe“ von Dea Loher 2009 und 2010 zum besten Bühnenbildner des Jahres gewählt. Wann entscheiden Sie sich für eigene Bühnenbilder und wann für die anderer Künstler?

Kriegenburg: Da gibt es nicht wirklich eine Regel. Wenn ich ein Stück lese und eine sehr klare Vision von einer Bühne habe, sage ich, ich brauch keinen Bühnenbildner, der als mein Vasall etwas macht und nur meine Fantasie umsetzt. Wenn ich mit einem Bühnenbildner arbeite, hat er größte künstlerische Freiheit, ich mische mich in seine Arbeit gar nicht ein. Mitunter bin ich wie attackiert von einer szenischen Vision und kann mich derer nicht erwehren, dann entscheide ich, es selber zu machen. Ich mache das sehr gerne, weil es natürlich auch ein großes Vergnügen ist, für Menschen Räume zu kreieren. Aber ich erlebe es gleichzeitig auch immer als einen Verlust, weil es mir eigentlich einen künstlerischen Partner wegnimmt. Ich versuche mir die Freude, Bühnenbilder selber zu machen, immer dadurch zu erkämpfen, dass ich mit dem Assistenten oder der Assistentin, mit der ich die eine Bühne gemacht habe, in einer der nächsten Arbeiten als Bühnenbildnerin arbeite. Das hat zur Folge, dass ich mit sehr jungen Bühnenbildnern arbeite. Aber wann ich wofür entscheide, ist sehr unterschiedlich.

Uberman: Sie inszenieren sehr verschiedene Stoffe, von der Antike über deutsche Klassiker, Tschechow, zeitgenössische Autorinnen: Dea Loher, Elfriede Jelinek. Sie bearbeiten Romane für die Bühne - Kafka, Josef Conrad und noch andere. Das ist eine große Vielfalt. Ist in dieser Vielfalt außer dem, dass sie gerne Geschichten erzählen, vielleicht auch noch ein Schwerpunkt zu finden?

Kriegenburg: Sprache. Mir fällt Sprache, die sehr komplex ist, ob es Shakespeare ist, ob es Lessing, ob es Hebbel, ob es Kleist ist, sehr leicht, weil ich an der Sprache einen Widerstand erlebe, einen Widerstand gegen Oberflächlichkeit, weil ich auch eine Geborgenheit in der Literatur empfinde und insofern ist die Sprache und auch das Vergnügen des Schauspielers zu sprechen, für mich ein ganz wichtiger Motor, eine ganz wichtige Inspiration. Dadurch entstehen auch sehr viel unterschiedlich erzählende Abende, weil natürlich Kafka mit seiner Beschleunigung der Sprache, mit seiner Verschachtelung der Sprache, mit seiner feinen Ironie, ganz anders erzählt als Dea Loher, die viel fragiler erzählt oder auch Kleist, der viel versteckter erzählt. Und das ist für mich ein Ort, an dem ich wirklich zu Hause bin, die Auseinadersetzung mit Sprache.

Uberman: Gibt es einen sprachstarken Autor, an den Sie sich nicht heranwagen?

Kriegenburg: Eigentlich nicht. Ich habe ja das Glück, dass ich weitgehend mitentscheiden kann, was ich wo inszeniere. Es ist auch so, dass ich ein großes Vergnügen an der Unterschiedlichkeit habe, ich habe an Sartre ein ebenso großes Vergnügen, an der unglaublichen Qualität seiner Dialoge, wie an der Kompliziertheit von Kleist. Es ist so, dass ganz unterschiedliche Erzählweisen sich aus unterschiedlicher Sprache ergeben und es gibt z. B. einen Bereich der Dramatik, den ich nie gemacht habe, die ganzen well-made-plays, fast die ganze angloamerikanische Literatur: Tennesse Williams, Arthur Miller. Weil ich es tatsächlich nicht kann, weil ich zu wenig Widerstand über die Sprache derer, die auf der Bühne sprechen, erlebe. Aber mir fällt jetzt kein sprachstarker Autor ein, wo ich gesagt habe, da trau ich mich nicht dran.

Uberman: Auch die letzte Spielzeit beweist, dass man Sie nicht leicht erschrecken kann. Sie inszenierten an der Bayerischen Oper in München den ganzen „Ring“ von Wagner. Opern inszenieren Sie seit 2006, suchten Sie damals nach einer neuen Herausforderung?

Kriegenburg: Es war nicht wirklich eine rationale Entscheidung zur Oper zu gehen, sondern eher ein sentimentaler Moment. Ich bin sehr früh aus meiner Heimatstadt Magdeburg weggegangen, und während ich Schauspiel inszeniert habe, gab es immer wieder Angebote, an der Oper eine Arbeit zu machen. Ich habe es immer abgelehnt, weil ich gesagt habe, ich habe am Schauspiel genug zu lernen, auch genug zu tun, ich will mich nicht in viele Richtungen entwickeln. Es gab dann aber einen Moment, wo in einer ganz bestimmten Situation der Intendant von Magdeburg mich fragte, ob ich eine Oper mache. Die habe ich zugesagt. Das war für mich nicht nur ein überraschendes Erlebnis, sondern auch ein sehr vergnügliches, ein sehr erfolgreiches, aber wirklich auch in der Begegnung mit der Oper ein sehr schönes Erlebnis. Woraufhin ich gesagt habe, ich mach das erst mal weiter. Und dann kamen schnell auch sehr verlockende Angebote. Es kommt sicherlich hinzu, dass ich genossen habe, wieder lernen zu müssen, dass man natürlich keinerlei Routine hat, wenn man in der Oper arbeitet, weil die Sprachen zwischen Schauspiel und Oper sehr verschieden sind. In der Schauspielarbeit konnte ich mich irgendwann mal einer gewissen Routine nicht mehr erwehren, es ist einfach so, man hat viele Szenen schon gemacht, man weiß, wie was funktioniert. Dieser Zustand, wieder lernen zu müssen, wieder sagen zu können, ich habe Angst, weil, ich weiß nicht, ob es gut wird, ich weiß nicht, was da raus kommt, das war für mich ein großes Vergnügen. Ich hab natürlich auch mitunter gedacht, es ist schwer, dass es so schnell geht. Zwei Arbeiten in Magdeburg, einem sehr schönen Theater, aber kleinen Theater und dann die dritte schon der „Woyzeck“ in München. Er war sehr erfolgreich, ist auch eine sehr schöne Arbeit, aber es gab einige Momente, wo ich gedacht hab, gebt mir ein wenig mehr Lehrzeit, gebt mir noch Schonzeit. Andererseits hab ich für den „Ring“ seinerzeit schon sehr bewusst zugesagt. Ich sagte, wenn, dann muss ich mich der Oper auch stellen, ich muss das Risiko suchen und nicht die Sicherheit.

Uberman: Gerade jetzt inszenieren Sie am Deutschen Theater in Berlin das neue Stück von Dea Loher „Am Schwarzen See“. Mit der Autorin, die auch in Polen gut bekannt und beliebt ist, verbindet Sie eine mehrjährige künstlerische Zusammenarbeit. Sie machten die meisten ihrer Uraufführungen. Ist das anders, wenn man ein neues Stück einer Autorin, die einem literarisch so gut vertraut ist, uraufführt?

Kriegenburg: Ja, das ist sehr anders. Die Zeiten, in denen ich einen Text von Dea Loher inszeniere, sind für mich immer gleichzeitig große Wonne und Qual. Weil wir uns schon sehr lange kennen, nimmt Dea beim Schreiben überhaupt keine Rücksicht auf mich. Sie schafft es immer wieder, mich mit Texten zu konfrontieren, die mich erschrecken, von dem, was sie zu erzählen versucht, von dem, was sie an Schmerz, an Trauer und an Zerrissenheit in ihre Figuren hineinpresst und die mich auch als Regisseur unglaublich fordern. Über unsere langjährige Zusammenarbeit hinweg hat Dea aufgehört, beim Schreiben auf das Theater Rücksicht zu nehmen und an die Ökonomie einer Aufführung zu denken. Sie schreibt gerne dann auch mal am Ende des Stückes fünf Monologe, wo ich als Regisseur mich frage, wie verhindere ich, dass die Leute durchdrehen, einschlafen oder nach Hause gehen. (mit ruhigem Lächeln) Sie schafft es tatsächlich wie kein anderer Autor, mich als Regisseur mit meiner ganzen Fantasie zu beanspruchen und mich auch über Wochen und Monate hinweg schlaflos zu halten. Ihre Stücke sind sehr besonders, sie sind sprachlich bedrängend schön, aber inszenatorisch für einen Regisseur mitunter die Hölle. Es ist auch so, dass ich diese Bedrängnisse nur Dea Loher zugestehe, bei allen anderen, auch modernen Autoren würde ich viel eher die Flucht ergreifen und sagen, das ist mir zu anstrengend oder das kann ich nicht. Bei Dea habe ich nicht die Möglichkeit zu entfliehen.

Uberman: Sie machen uns auf das Stück gespannt. Wovon handelt es?

Kriegenburg: Das Ungewöhnliche für Dea Loher an dem Stück ist, dass es wieder ein Kammerspiel ist wie ihre ersten Stücke. Danach hat sie ja lange Zeit Stücke mit einem viel größeren Personal geschrieben. Es ist schwer zu beschreiben, weil, es gibt bei Dea eigentlich immer wenigstens zwei Ebenen, die Ebene der Einfachheit, gar nicht der Trivialität, sondern der einfachen Erzählung und darüber die Schicksalsebene oder mitunter auch die religiöse Ebene, wie sind Menschen in Schuld verstrickt. Zwei Ehepaare treffen sich nach langer Zeit wieder und versuchen, miteinander in einem sehr schmerzhaften Prozess herauszufinden, warum ihre beiden gleichaltrigen Kinder sich gemeinsam das Leben genommen haben. Sie waren zwei fünfzehnjährige Teenager, die entschieden haben, gemeinsam aus der Welt zu gehen. Die Eltern haben einen Abschiedsbrief in den Händen, der aber missverständlich ist. Die Kinder schreiben in einem Satz: “Das hier ist nicht schön“, und die Eltern wissen nicht, ob die Kinder meinten, „das hier“, also ihr Leben, ihre Beziehungen, ihre Ehe - das hätten sie ändern können - oder ob die Kinder ganz grundsätzlich „das Hier“, im religiösen Sinne, das In-die-Welt-geworfen-Sein meinten. Sie versuchen heraus zu finden, was ist der Grund und stellen dabei fest, dass sie nicht nur von den Kindern sehr wenig wissen, sondern sich auch selber eingenistet haben in ihren eigenen Lebenslügen. Sie versuchen, ein Warum zu formulieren.

Uberman: Danke, dass Sie trotz intensiver Proben für dieses Gespräch Zeit gefunden haben. Und toi, toi, toi für die Premiere.

Erschien auf Polnisch in "Teatr" Nr 12/2012 und wurde später auf Deutsch in MOE-Kultur-Newsletter, Ausgabe 86 publiziert