„Bitte schön“

von Anda Rottenberg - Auszüge

Übersetzung aus dem Polnischen von Iwona Uberman

Autopsie

Ich weiß schon, dass ich Geburts-, Sterbe- und Eheschließungsregister des Israelitischen Kreises für Urkunden aus den Jahren von 1854 bis 1904 durchsuchen muss. Die späteren befinden sich im staatlichen Standesamt, das für mich aufgrund des Schutzes von Personendaten unzugänglich ist. Ich kann weder den Eintrag über die Geburt meines Vaters sehen, noch das Geheimnis des unglückseligen Józef Ring lüften, der mein Großvater sein soll. Ich schaue also die Spalten durch, die auf Deutsch, mit kleiner kalligrafischer Schrift ausgefüllt worden sind: laufende Nummer, Vorname, Name, Geburtsdatum und Ort, Vorname und Name des Vaters, Vorname, Name und Herkunft der Mutter. Im israelitischen Kreis haben nur die Mütter eine Familie. Nur die Herkunft der Mütter wird dokumentiert. (…)

Endlich fängt etwas an, sich zu einem Bild zu fügen. Meine Vermutungen, dass meine Urgroßmutter Liebe Lampel hieß und eine Schwester von Hersz war, werden bestätigt. Diesen Hersz, der mit 100 Jahren umgekommen ist. Ich finde auch die Ururgroßeltern, bitte schön, es sind Ascher und Chaja Lampels aus Świdnik bei Limanowa. Sie mussten im ersten Viertel des 19. Jahrhunderts geboren sein. Ich schließe weiter daraus, dass Lieba einen gewissen Mozes Rottenburg aus Hutweide, also Gaj, geheiratet hatte, der Ort liegt einen Sprung von Biczyce entfernt und vermutlich wohnte sie mit ihm in Gaj, weil dort ihre Kinder auf die Welt kamen. Die zwei ältesten – meine Oma Rozalia und ihr Bruder Samuel, der von der Ungarnreise – mussten anderswo geboren sein, in einem anderen Kreis, weil ihre Geburten in den Registern von Nowy Sącz nicht notiert wurden (oder sie wurden in den Bänden notiert, die im Archiv fehlen). Die weiteren Geschwister sind jedoch auffindbar: Ascher (1880), Sara (1882), Chaja (1885), Tauba (1887). (…)

Darüber, wo sie wohnten, erfuhr ich von Herrn Janek. Ich fand ihn, als ich schon wusste, dass das alte Deutsch- Biczyce heute das Untere heißt und das alte Polnisch-Biczyce jetzt das Obere ist; als ich von Herrn Leszek Zakrzewski von der Historischen Gesellschaft aus Nowy Sącz den Plan des Dorfes aus dem Jahr 1939 bekommen hatte, angefertigt durch die deutsche Landsmannschaft, und als ich schon die richtige Brücke finden konnte – nicht die über den Fluss Kamienica, sondern die über den Dunajec. Der Weg über die Brücke führt nach Chełmec, wo mein Vater Schneider lernte und geht weiter eben nach Unter- Biczyce, früher Deutsch- Biczyce. Bevor man Biczyce erreicht, kann man links nach Gaj abbiegen, wo mein Urgroßvater zu Hause gewesen war. Ich fuhr an diesem Abzweig vorbei und in ein kleines Dorf ein. Ich wusste, dass es nur zwei Querstraßen hatte, bog also bei der ersten ab und hielt an, um nach jemandem zu fragen, der sich noch an die Vorkriegszeiten erinnerte. Es stellte sich heraus, dass ich bei dem richtigen Haus hielt.

Herr Janek stellte zuerst den Traktor in die Scheune, zog die Gummistiefel aus und lud mich ins Haus. Wir setzten uns an den Tisch, der mit Behördenpapieren vollgepackt war – es zeigte sich, dass ich ins Büro des örtlichen Abgeordneten geraten war und ich wurde wahrscheinlich als Interessierte angesehen. Ich war es auch in gewisser Weise. Ich startete also einen sanften Versuch, das Ziel meines Besuches darzulegen und zog ein vergrößertes Foto meiner Großmutter heraus. Ich brauchte jedoch nichts mehr zu erklären, weil Herr Janek sofort aufschrie: Rojza! – Er kannte sie! Er kannte meine Großmutter! Ich ging einfach in ein Haus in Biczyce und fand sofort eine von drei noch lebenden aber in der Welt verstreuten Personen, die meine Oma gekannt haben! Herr Janek erkannte auch Tauba (er sprach von Touba) und Mania. Er erkannte meinen Vater und auch Kazek, Hela und Monek Buchbinder. Der Letzte war dieser dritte, mir unbekannte, gut aussehende Mann auf den Fotos von 1946, gemacht auf der Brücke, auf dem Friedhof und – feierlich – beim Fotografen. Der Bruder von Kazek und Hela. Herr Janek wusste auch, wie sie der Aussiedlung entkommen waren und wo sie sich versteckt hatten. Er sprach von Zośka, nicht von Hanka. - Vielleicht gab es auch Hanka, aber gewohnt hatten sie bei Zośka. – Ich verstand davon wenig, unterließ aber die Details, um sie mit Hela zu klären. Von Herrn Janek wollte ich über Rozalia hören. Ich war in Eile, hatte Angst, nicht alles, was wichtig war, zu erfragen, ein wichtiges Detail zu übersehen, Angst, dass ich wegfahre und so nie – nie! – etwas erfahre. Ich erfahre also, dass meine Oma koschere Milch verkauft hatte. Gibt es eine Vorschrift für koschere Milch? Bekommen Kühe koscheres Heu? Herr Janek weiß es nicht genau, aber vermutet, dass das eher mit der Person selbst zusammenhängt. Sie muss koscher sein, nicht die Kuh. (Später erfuhr ich, dass das Koschere der Milch mit der Perücke meiner Großmutter zusammenhing; eine Frau, die keine Perücke trug, galt als nicht ganz koscher.) Die Oma hatte keine eigene Kuh, sie hatte fremde, angemietete Kühe gemolken und später hatte Mania die Kannen in die Stadt getragen. – Von diesem Gewicht wurden ihre Beine krumm – merkte Herr Janek hierzu an. Konnte man denn vom Verkauf der Milch, die man zu Fuß in die Stadt getragen hatte, leben? Wenn man gezwungen war, musste es gehen. (…) Über meinen Vater erfuhr ich, dass er ein mutiger Ulan gewesen war. Herr Janek, damals noch sehr klein, ein Junge von ca. 10 Jahren, erinnerte sich, wie die Männer an der Ecke, neben einem Laden gestanden waren, in ihren schicken Uniformen, da es in Biczyce einige gegeben hatte, die „beim Heer“ gewesen waren und sie hatten ihre Zigaretten geraucht. „Ihre Großmutter war Jüdin gewesen, aber sie hatte Ihren Vater zu einem echten Polen erzogen“, fügte er zum Abschluss meines ersten Besuches hinzu.

Drei Geschichten

Das Gebiet um die Stadt Nowy Sącz hat drei verschiedene Geschichten. Am längsten ist die Geschichte, die mit den Kulturschichten zusammenhängt und sie betrifft mehr die Umgebung, als die Stadt selbst. Von neolithischen archäologischen Ausgrabungen geht sie mit einem Sprung in die christliche Zeit über, in die Periode der Entstehung des polnischen Staatswesens und zu den ersten Erwähnungen der Stadt ca. zur Hälfte des 13. Jahrhunderts, danach wird die Geschichte rasch in die heutigen Tage fortgesetzt. Es gibt dort die Namen der Könige, Militärführer und berühmter Bürger, Namen der Kirchen und umliegenden Dörfer. Man spricht über polnische Arianer mit deutsch klingenden Namen und über große Naturkatastrophen. (…)

Nowy Sącz bekam das Stadtrecht am 8.11.1292 von König Wenzel II. verliehen (übrigens ein tschechischer Herrscher). Seine damalige Entwicklung verdankt die Stadt zahlreichen Privilegien und seiner Lage am Handelsweg nach Ungarn. Im 14. Jahrhundert wurden das Schloss und die Stadtmauer erbaut. Erst mehrmalige Überschwemmungen, Feuer und Epidemien haben die mittelalterliche Entwicklung gestoppt. (…) Seit 1772 lag die Stadt aufgrund der ersten Teilung Polens innerhalb der Grenzen Österreichs, in Galizien. Damals wurde sie durch die Behörden in Neu Sandez umbenannt. (…) 1918 befreit, kehrte sie zur Republik Polen zurück. Während des September-Verteidigungskampfes 1939 wehrte sich Nowy Sącz kurz: sie wurde schon am 6. September durch deutsche Truppen besetzt. In den Zeiten der Okkupation führten durch sie geheime Pfade für die Verlegung von Soldaten nach Ungarn und weiter zu der neu entstehenden polnischen Armee in Frankreich, später in England. Am 20.01.1945 wurde die Stadt nach dreitägigen Kämpfen von den Truppen des Generals Kiryl Moskalenko eingenommen. Für ihre heldenhafte Haltung während des Krieges wurde der Stadt 1946 der Orden „Grunwald-Kreuz“ 3. Klasse verliehen.

Die zweite Geschichte ist die Geschichte der hier wohnenden Juden. Sie fängt mit ihrer Ankunft auf diesem Gebiete an und endet Mitte des Jahres 1942, obwohl sie noch eine unaufgeschriebene Fortsetzung hat, die bis zum Jahr 1968 reicht. In dieser Geschichte werden ebenfalls die Namen der Könige genannt, aber in einem anderen Zusammenhang. Die Kurzfassung der Geschichte spricht von ersten Erwähnungen der in Nowy Sącz wohnenden Juden in den Jahren 1469 und 1503. (…) Nowy Sącz wurde zu einem wichtigen Zentrum der chassidischen Lehre, nachdem der Zaddik Chaim Halberstam hier 1830 seinen Wohnsitz nahm. Chassiden aus Nowy Sącz und aus anderen Orten wurden in der Umgangssprache Zanzer Chasidim genannt. (…) Kurz vor dem Ausbruch des Zweiten Weltkrieges lebten in der Stadt ca. 10.000 Juden, in der Umgebung weitere 5.000. Vom Beginn der Okkupation an wurden sie zu Sklavenarbeit gezwungen, unter anderem in den Lagern von Chełmiec, Lipie, Rożnów, Rytra und in den Werkstätten des Ghettos. Die erste große Erschießungsaktion fand im Mai 1940 statt, die Grenzen einer geschlossenen Zone wurden endgültig ein Jahr später festgelegt. Ende August 1942 wurde das Ghetto aufgelöst und die Deportation in das Vernichtungslager Bełżec durchgeführt. Überlebt haben nur einzelne Personen, die sich meistens in Orten der Umgebung versteckt hatten.

Die dritte Geschichte bildet die Geschichte der sich hier niedergelassenen Deutschen. Sie kamen Ende des 18. Jahrhunderts im Rahmen der so genannten Josefinischen Kolonisation an. Sie gingen Anfang 1945. Die deutsche Geschichte ist also die kürzeste. Die organisierte Kolonisation auf Staatsgüter der Ungarisch-Österreichischen Monarchie regte Kaiserin Maria Theresia an; das von ihr erlassene Patent aus dem Jahr 1774 ließ jedoch nur die Ansiedlung von Handwerkern in den Städten zu. Diese den Ansiedlern gestellte Bedingung sollte Proteste von Katholiken in Galizien gegen das Ansiedeln von evangelischen Bauern verhindern. Sie beruhte auch teilweise auf der Abneigung der Kaiserin gegenüber Protestanten. (…) Auf die Ansiedlungsgebiete kamen Siedler aus Deutschland, meistens aus dem Rheinland und der Pfalz, weshalb sie „Pfalzen Schwaben“ genannt wurden. Man sah für sie hauptsächlich Gutshöfe auf Kammergütern (frühere Königsgüter) vor, sowie Böden aufgelöster Klöster. Die Siedlungen wurden neben existierenden Dörfern oder als deren Teile angelegt, nachdem ein besonderes Siedlungssystem geschaffen worden war. Die Aktion wurde 1789 beendet, den schon niedergelassenen Siedlern wurde jedoch erlaubt, neue Siedlungen zu gründen. Es wird geschätzt, dass ihre Zahl etwa 18.000 betrug. In dieser Zeit entstanden 120 deutsche und 55 gemischte Siedlungen. (…) Hinsichtlich Religion und Bräuchen überwogen evangelisch-augsburgische und reformierte Gläubige. Die Besiedlungsaktion fand hier später als in anderen Regionen von Galizien statt und fiel in die Jahre 1783-1788. Namen von neuen Teilen mancher Dörfer wurden mit dem Wort „Deutsch“ versehen (z.B. Deutsch-Gaboń, Deutsch-Gołkowice), in anderen Fällen wurden polnische Namen ins Deutsche übersetzt und manchmal nahm man Namen, die keinen Zusammenhang mit polnischen Namen hatten. So entstanden rund um Nowy Sącz die Dörfer: Golgowitz – Gołkowice Niemieckie (1783), Hundsdorf – Chełmiec Niemiecki (1783), Laufendorf – Biegonice (1783), Podritz [Unterbach] – Podrzyce (1783), Dąbrówka Niemiecka (1786), Bitschitz – Biczyce Niemieckie (1788). Nach Ende des Ersten Weltkrieges, wurde aufgrund eines speziellen Abkommens auch ein Teil der deutschen Bevölkerung aus der Ukraine nach Westgalizien übersiedelt. Zur Jahreswende 1944-1945 zogen sie alle – alte und neue Siedler- weg oder wurden nach Deutschland ausgesiedelt. Bald gründeten sie Landmannschaften, die seit 1962 eine eigene Zeitschrift mit dem Titel „Zeitweiser der Galiziendeutschen“ herausgeben. Sie veröffentlichen darin Erinnerungen und wissenschaftliche Beiträge. Ähnlich wie die Juden aus Galizien besitzen sie ihre Internetseite und suchen über sie nach Erinnerungsgegenständen, Verwandten und Spuren des Lebens ihrer Vorfahren. Sie verabreden sich auch zu Ausflügen in die Orte ihrer Familien.

Stern

Das Schuljahr beginnt. Cyryl und Zosia sprechen über Schuluniformen. Dass sie keine gute Idee sind. Ich erzähle, dass ich in den kommunistischen Zeiten nicht nur eine Schuluniform, sondern auch eine Baskenmütze und ein Schulemblem tragen musste. Zosia fängt an zu lachen: „Kannst du dir vorstellen, wie ich in öffentlichen Transportmitteln mit einem Emblem der jüdischen Schule fahre?“

Ich erinnere mich, wie ihr Vater sich während des Kriegsrechts einen gelben Stern auf seinen Pullover gestickt hatte. Sehr sorgfältig. Gut sichtbar. Und ging zur Schule. Er ging damals in die sechste oder siebte Klasse. Wir wohnten schon in der Wilanowskastraße, aber er ging weiter in seine alte Schule und fuhr dorthin in die Górnośląskastraße in immer mehr merkwürdigeren Kleidern. Er habe gerade „die Ehre der Schule geerbt“, sagte er mir vertraulich, hatte aber nicht erklärt, was es zu bedeuten hatte. (…) Mein Sohn schwieg. Er wollte nicht erzählen, was ihn dazu gebracht hatte. Vielleicht war es eine lustige Anmerkung zu einem allgemein bekannten Thema und ihm wurde plötzlich klar, dass es irgendwie mit seinem Großvater zusammenhing, den er warm in seinen Kindheitserinnerungen behielt. Wenn man solche Bemerkungen zum ersten Mal hört, kann man auf sie falsch reagieren. Erst nach einer Weile fängt man zu lachen an. Schließlich verging auch mir der Humor nach der Aktion der Abgeordneten bezüglich der Skulptur von Johannes Paul II., obwohl ich schon erwachsen war und dachte, dass ich gegen Exzesse „der echten Polen“ immun bin. Ich irrte mich. Ich verstand es aber nicht gleich. Zuerst lachte ich, selbstverständlich. Ich lachte immer noch, als ich den an alle möglichen Behörden der Republik Polen gerichteten Brief las, in dem man die Entlassung der Direktorin jüdischer Herkunft forderte, die nach Israel fahren solle, um dort Skulpturen vom großen Rabbiner niedergedrückt durch einen Schuh von Saddam auszustellen. Mir schien das Ganze absurd, also sehr komisch. Ich änderte meine Meinung, als die Hälfte des polnischen Abgeordnetenhauses sowohl die Aktion in Zacheta wie auch den Brief für rational und begründet hielt. Damals bin ich ebenfalls mit einem Stern aufgetreten – nicht einem gestickten, sondern einem selbstklebenden, weniger arbeitsaufwendigen. Es waren eigentlich zwei Sterne, groß und golden, auf dem Untergrund meiner schwarzen Vernissage-Kleidung – der eine am Revers, der andere auf dem Rücken. Ich eröffnete meine letzte Ausstellung und setzte mich mit Julita Wójcik zum Kartoffel-Schälen. Über die Kartoffeln gab es viel Aufregung in den Zeitungen. Über den Stern herrschte Schweigen. Nur einige Bekannte nahmen mich zur Seite und sagten leise im Vertrauen, dass es auch in ihren Familien Juden gäbe, sie es aber vorzögen, darüber nicht laut zu sprechen. Schließlich wozu? So wie in den Reimen des Priesters Jan Twardowski:

Hoho tralala, wir besuchen heute Großmama
Aber pst, verrate nicht, dass die Omi Jüdin ist.

Zosia hat darin Übung seit der Kita; sie weiß, dass wir in einer sehr toleranten Gesellschaft leben. Deshalb lacht sie schon beim bloßen Gedanken, sich das Emblem der jüdischen Schule aufzusetzen und in eine Straßenbahn einzusteigen. Cyryl teilt diese Fröhlichkeit nicht, er geht auf ein katholisches Gymnasium.

Erschienen mit Genehmigung der Autorin in MOE-Kultur-Newsletter, Ausgabe 78