Kein Schiff wird kommen

Das Stück von Nis-Momme Stockmann am Deutschen Theater Berlin

Was ist das für ein Traum für einen jungen Autor, eine Auftragsarbeit zu bekommen! Das Geld ist gesichert, ein Abnehmer wartet, man braucht sich nur hinzusetzen und das fertige Produkt abzuliefern. Das Ziel, d.h. das Thema des Theaterstückes ist bestimmt: es soll ein Stück über die Wende sein, über den Fall der Berliner Mauer.

Alles ist also abgesprochen, der Auftrag angenommen. Aber was tun, wenn man plötzlich merkt, dass einem zu dem Thema nichts Originelles einfällt? Dass man nur über klischeehafte Bilder, die einem in der Öffentlichkeit vermittelt wurden, verfügt? Zu Zeit des Mauerfalls war der Autor noch ein Kind, er lebte mit seiner Familie auf der Nordseeinsel Föhr. Er besitzt über die Ereignisse des nahen, feierlich vorzubereitenden, noblen Jubiläums keine eigenen Erinnerungen. Was also tun?

Auf der Suche nach einer Lösung, einer Idee oder Inspiration, die ihn weiter bringen würde, begibt sich der inzwischen in Berlin lebende Autor zu seinem Vater nach Föhr. Die komplizierte Vater-Sohn-Beziehung wird diesmal wegen der problemvollen Lage des Sohnes auf eine Zerreißprobe gestellt– wer kennt das nicht aus seinem eigenen Leben. Die Versuche, sich gegenseitig Hilfe und Kraft zu geben und sie zu holen, scheitern.

Der Sohn reist ab, aber die Auseinandersetzung zwischen den beiden geht trotz der räumlichen Entfernung weiter. Der Vater schreibt einen Brief. Der Sohn antwortet mit einem Theaterstück. Sie finden nicht zueinander. Der Sohn kommt jedoch erstaunlicherweise in seinem ursprünglichen Problem voran. Er wird sagen: „Ich habe kein Stück über die Wende geschrieben. Und bin kurz stolz.“ Er trifft die Entscheidung gegen den Kunstmarkt und für die Freiheit des Künstlers.

So gelingt dem jungen Theaterautoren Nis-Momme Stockmann ein sehr raffiniertes Stück über die Wende. Man könnte zuerst meinen, es sei kein Stück zu diesem Thema, da das Hauptereignis fast vollständig fehlt. Stockmann schrieb ein Stück, was vieles ist. Es ist eine ironische und eine ernsthafte Kritik am Kulturbetrieb, seinen Abläufen und Regeln. Es ist ein Stück, das die Rolle des Künstlers in einer nach Gesetzen der Marktwirtschaft funktionierenden Welt reflektiert. Es ist auch eine berührende, sehr subtil und mit allen schmerzlichen Seiten beschriebene Familiengeschichte, in der der Schwerpunkt auf der Vater-Sohn-Beziehung liegt.

Und dennoch, es ist auch ein Stück über die Wende. Geschrieben gegen die Erwartungen der Öffentlichkeit und des Marktes. Und es berührt ein selten besprochener Aspekt der Geschichte. Stockmann zeigt nicht nur, dass es in Deutschland inzwischen eine Generation gibt, für die der Mauerfall nur ein weit entfernter historischer Fakt ist, genauso wie z. B. das Ende des zweiten Weltkrieges, da ihr das eigene Erlebnis fehlt. Er zeigt auch, dass, wenn die älteren Deutschen heute nach den Ereignissen von damals befragt, behaupten, es sei das wichtigste und glücklichste Ereignis in ihrem Leben, dies unwahr ist. Natürlich haben sie damals vor 20 Jahren das Ereignis mit Freude aufgenommen (wie man sich auch über eine Nachricht vom Ende einer Diktatur irgendwo auf der Welt freuen würde), aber sie waren oft vor allem mit dem eigenen Alltag beschäftigt. Er war ihnen damals wichtiger als die Ereignisse der großen Geschichte. Anders als sie heute behaupten, konnten sie auch nicht wissen, dass sie bereits den Zerfall des sozialistischen Ostblocks erleben und dass Deutschland demnächst die Wiedervereinigung feiern wird. Wenn man die Geschichte vom Endereignis zurückerzählt, lässt sie sich leicht anders darstellen als beim Blick in chronologischer Reihenfolge.

Es ist kein Wunder, dass Stockmann zum Nachwuchsautor des Jahres gewählt wurde und dass seine Stücke zur Zeit große Erfolge feiern. Er ist ein Autor, der alles kann: komisch und ernsthaft erzählen, wirklich neue Aspekte in altbekannten Themen entdecken, mutig das Schmerzhafte und Deprimierende ausstellen, statt nur unterhaltsam und nett zu schreiben. Er zeigt die Strukturen der Gesellschaft und Verhaltensweisen, die nicht am Gewinn orientiert sind. Sein Interesse an Verlierern, Gescheiterten, Überforderten und durch Schicksalsschläge Gebrochenen lässt ihn das Komische im Detail nicht vergessen und dem Poetischen mitten in der Brutalität des Daseins genügend Platz verschaffen. Stockmann ergreift das Wort dort, wo man im wirklichen Leben lieber verschämt schweigt. Vielleicht liegt darin das Geheimnis der Beliebtheit seiner Dramen?

Frank Abt, der Regisseur von „Kein Schiff wird kommen“ am Deutschen Theater in Berlin, kann sich für seine Arbeit beglückwünschen. Es stimmt zwar, er hat eine spannende Inszenierungsvorlage bekommen. Aber er hat auch etwas aus ihr gemacht. Stockmanns Text besteht größtenteils aus einem Monolog, der stellenweise durch kurze Gespräch-Ansätze unterbrochen wird, manchmal ins Dialogische mit ständigen Seitenkommentaren der Hauptfigur wechselt. Diese Textform bringt für eine Inszenierung Gefahr der Langatmigkeit oder Statik des szenischen Geschehens. Abt löst das mögliche Problem durch stellenweises Aufteilen der Hauptrolle auf zwei Schauspieler bei gleichzeitigem Zusammenziehen der Rollen an anderen Stellen, so dass die Hauptfigur bei Dialogen dort beide Gesprächspartner darstellt. Diese Rollenverteilung wird konsequent durch die ganze Inszenierung durchgezogen. Eine weitere tragende Idee ist das Einführen einer geheimnisvollen Frauenfigur, die viele Spielräume für Interpretation offen lässt.

Die guten Regieeinfälle korrespondieren (ebenfalls durchgehend!) mit den schauspielerischen Leistungen der Darsteller. Stockmanns Stück ist ein stark auf Schauspieler ausgerichteter Text, die Figuren stehen hier im Zentrum. Die Darsteller des Deutschen Theaters wissen dies zu nutzen. Eine ganz besondere Arbeit leistet Paul Schröder an diesem Abend, der in der Rolle des jungen Autors die Zuschauer schon in den ersten Minuten hypnotisiert, in seinen Bann zieht und sie durch Komik und Tragik der Geschichte führt. Schröders glanzvolle und sehr genau erarbeitete darstellerische Leistung ist etwas, was man nach Hause mitnimmt und woran man sich gern noch in den nächsten Tagen erinnert. Paul Schröder ist erst seit einem Jahr im Ensemble des Deutschen Theaters, wohin er nach seinem Abschluss der Ernst Busch Schauspielschule engagiert wurde. Es ist leicht vorstellbar, dass man von diesem Schauspieler bald noch mehr hören wird. Es gibt auch viele Rollen, in denen man sich ihn gut vorstellen könnte.

Und was den deutschen Nachwuchsautor des Jahres 2010 angeht, inzwischen breitet sich sein Erfolg in Europa aus. Seine Stücke werden gerade ins Französische, Englische, Schwedische, Spanische und Polnische übersetzt und er wird in den dortigen Theater vorgestellt. Ende November 2010 konnte man beispielsweise in Krakau am 25. und 26.11. bei den Theaterpräsentationen in Rahmen der Werkstatt von European Theatre Network „Focus on Mitos 21“ Stockmanns Stück „Wynajem“ erleben. Interessanterweise ist der in Polen schon präsentierte Text auf Deutsch noch nicht veröffentlicht. Der Autor arbeitet noch daran. Der jetzige Arbeitstitel lautet „Tod und Wiederauferstehung meiner Eltern in mir“. Stockmanns neuestes Schiff ist also diesmal zuerst in Polen angekommen. Aber keine Sorge, es kommt natürlich auch nach Deutschland.

Erschienen in MOE-Kultur-Newsletter, Ausgabe 74