Bloß weg

„Bakunin auf dem Rücksitz“ von Dirk Laucke im Deutschen Theater Berlin

Zugegeben: die Kritikerin hat nicht alles verstanden. Fehler und Missdeutungen sind also nicht ausgeschlossen und Korrekturen der Sicht erlaubt. Aber was ist schon eindeutig in dieser Welt?

Die Geschichte geht ungefähr so: Jörg lernt man gleich als einen Toten kennen. Er drehte den Gashahn auf. Warum? Nach einem Gerichtsbeschluss sollte seine Wohnung demnächst geräumt werden. Jörg zahlte seit langem keine Miete. Nicht mit mir, sagte Jörg, erzählt Bakunin, er wollte es mit sich nicht mehr machen lassen. Er stieg einfach aus.

Aber vielleicht, wenn Jörg die Miete gezahlt hätte, hätte er trotzdem raus gemusst? Auf diesem Gelände sollten bald Luxus-Wohn-Lofts entstehen und das ganze Stadtviertel, ja, die ganze Stadt, ist in Aufruhr. Die Armen müssen bald raus, die Gegend wird „aufgewertet“ und natürlich gibt es schon Abnehmer für die schönen Car-Lofts. Ihre Daten werden ausgemacht, durch Plakate weiterverbreitet und auf sie richtet sich der gerechte Zorn der anderen, die demnächst vertrieben und obdachlos werden, der Linken, der Kapital- Kapitalismus- und Globalisierungsgegner, der Schüler, der Nein-Sager, aller.

Es ist leicht vorstellbar, dass die Fronten manchmal durch die Familie oder einen Freundeskreis gehen. Wie zum Beispiel bei Charlotte, Lokalpolitikerin, die ein Car-Loft erstand und es erfahren muss, dass ihr eigener Sohn, Jan, ihren Namen mit Telefonnummer und Adresse an die Gegner ausgeliefert hat. Der Junge will mitkämpfen, der Loftbau ist nicht gerecht, aber Jan ist weich und bis auf einige Sprechblasen werde er nichts richten können, so das Urteil von Bakunin.

Ähnlich bei Eddi und Moni, die zuerst Jörgs Andenken feiern, um dann bei gegenseitigen Beschuldigungen und Misstrauen zu enden. Warum hatte Eddi, nachdem sie beim Caritas „outgesourced“ wurde und als freiberufliche Krankenpflegerin für Jörg nicht mehr zuständig war, nicht trotzdem nach ihm geschaut, abends, in ihrer Freizeit? Vielleicht wäre er dann noch am Leben? Und warum hatte Moni, die Besitzerin einer Kneipe, Jörg als Gast gern bei sich gesehen und ihm und den anderen beim Ausfüllen von Hartz IV-Anträgen geholfen, damit sie mit dem Geld ihre Rechnungen in der Kneipe begleichen können? Schließlich wusste Moni, dass der Alkohol Jörg schadet?

Eddi hätte übrigens gern einen neuen Job und ist auch bereit, ein Angebot des Immobilien-Besitzers, der die Car-Lofts bauen wird, anzunehmen, als die beiden Welten aufeinander treffen. Moni hält es für einen Verrat. Bakunin, von Moni gerade „Mussolini“ genannt, hält sich raus und gibt keinen Kommentar.

Aber auch der Kapitalist Steven hat es nicht leicht. Aus einer Alkoholikerfamilie stammend, hat er sich alles selbst zu verdanken. Er hat sich hochgearbeitet und er hat es „geschafft“, jedoch jetzt wächst ihm die Geschichte mit den Car-Lofts über den Kopf. So hat er sich das alles nicht vorgestellt, aber „ich komme da nicht mehr raus“. Seien die Loft denn versichert, erkundigt sich bei ihm Bakunin. Schließlich hatte Steven ihn anständig behandelt, seitdem es Jörg nicht mehr gibt. Es ist dennoch keine Freundschaft von langer Dauer. „Wo soll ich dich rauslassen?“ fragt Steven, „auf der Wiese oder bei einem Tierheim?“ Die Verhältnisse sind klar und so ist es Bakunin egal, wo er den Wagen verlässt. Er will schnell ganz weit weg von hier. „Mit dieser Revolution“ will er nichts zu tun haben.

Nichts ist nur schwarz oder nur weiß bei Dirk Laucke. Keiner ist wirklich gut, keiner wirklich schlecht. Die Positionen können gewechselt werden. Laucke schildert die Lage, er zeigt den Schwachen (auch Steve und Charlotte gehören manchmal dazu) sein Mitgefühl und Verständnis für ihre Situation. Der Autor gibt seinen Figuren keine Hinweise, wie sie ihr Leben „richtiger“ führen sollen. Dicht an die Realität und den Problemen vor allem der sozial Schwachen wird auf amüsante Weise ein Stück Alltag gezeigt, so wie er heute auch in Berlin zu erleben ist. Durch Zurückgreifen auf historische Erfahrung, stellt Laucke in Frage, ob die mit Umbrüchen und Revolutionen erprobten russischen Vorgänger für uns Lösungen haben könnten, ob sie denn besser als wir wüssten, was zu tun wäre. Nach der Betrachtung und Analyse der gegenwärtigen Lage verstummt Bakunin und er will mit den Revolten von heute nichts zu tun haben. Ist da nichts mehr zu retten? Übrigens, Bakunin ist bei Laucke ein Hund. Hat dies wirklich zu bedeuten, dass die heutigen Versuche, Veränderungen und Korrekturen in die bestehende Schieflage der Gesellschaft einzuführen, nur noch vor den Hund gehen können?

Über das Stück selbst, über die großartige, phantasievolle Inszenierung von Sabine Auf der Heyde und über die grandiosen Leistungen der Schauspieler, insbesondere Matthias Neukirch als Bakunin, kann man dies keinesfalls sagen.

Erschienen in MOE-Kultur-Newsletter, Ausgabe 73